- Nach fast 16 Monaten Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie befindet sich Deutschland auf Öffnungskurs.
- Wie weit der Weg zur Normalität noch ist, bleibt aber offen.
- Am Ende könnten die Gerichte darüber entscheiden.
Großbritannien ist das Land mit den höchsten Corona-Infektionszahlen in ganz Europa. Trotzdem sollen dort in zwei Wochen alle Freiheitsbeschränkungen wegen der Pandemie fallen: Abstandsregeln und Maskenpflicht sind dann Geschichte, Nachtclubs und Discos können wieder öffnen, in Pubs gibt's das Pint wieder an der Bar. Für Deutschland noch Zukunftsmusik? Nicht ganz. Die Länder verständigten sich am Dienstag im Grundsatz darauf, Großverstaltungen mit bis zu 25.000 Zuschauern unter bestimmten Voraussetzungen wieder zuzulassen. Zudem wird der Ruf nach einer baldigen Aufhebung aller Grundrechtseinschränkungen lauter - für den Zeitpunkt, wenn alle Impfwilligen in Deutschland sich impfen lassen konnten. Das dürfte spätestens im September der Fall sein.
Auf welche Lockerungen haben sich die Länder verständigt?
Zu großen Sportveranstaltungen sollen bald wieder Zuschauer kommen dürfen - allerdings mit Schutz- und Hygienekonzepten. Negative Tests sollen nötig sein, außer für Geimpfte und Genesene. Tickets müssen für Kontaktnachverfolgung personalisiert sein. Masken sollen mindestens abseits des eigenen Platzes getragen werden. Maximal jeder zweite Platz darf belegt sein - bei 25.000 Zuschauern soll Schluss sein. Bayern will maximal 35 Prozent der Vollauslastung und höchstens 20.000 Zuschauer erlauben.
Maas: "Wenn alle Menschen ein Impfangebot haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für Einschränkungen"
Wie geht es jetzt weiter?
"Weitere Erleichterungen in Richtung Normalbetrieb" - das peilen die Länder ausdrücklich für folgendes Szenario an: Fortschreitende Impfungen und allgemeine Verbesserung der pandemischen Situation. Aber bereits jetzt gibt es Forderungen, alle Beschränkungen in absehbarer Zeit aufzuheben. "Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung", meint beispielsweise Außenminister
Ist die Einschränkung von Grundrechten noch zu rechtfertigen, wenn alle Impfwilligen geimpft sind?
Der Staatsrechtler Stephan Rixen von der Universität Bayreuth sieht die nötigen Voraussetzungen noch nicht gegeben. "Maas meint offenbar, dass die Impfung die Gefahr einer Coronavirus-Infektion komplett beseitige. Das ist aber nicht der Fall, schon gar nicht bei der sich verbreitenden Delta-Variante", sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Auflagen wie Maske-Tragen und Abstandhalten seien vergleichsweise milde Grundrechts-Einschränkungen. "Das Grundgesetz gebietet nicht, auf diese Schutzmaßnahmen zu verzichten, obwohl es weiterhin eine ernstzunehmende Gefahr gibt."
Auch der Bochumer Verfassungsrechtler Stefan Huster meint, dass die Bürger auch weiterhin zum Tragen von Masken und Abstandhalten verpflichtet werden könnten. Beim Zugang zu Veranstaltungen sei das aber etwas anderes. Da gebe es einen "starken verfassungsrechtlichen Druck", Beschränkungen aufzuheben, sagt Huster. Am Ende könnten die Gerichte darüber entscheiden.
Laut Wieler wird sich jeder infizieren, der nicht geschützt ist
Wann wird jeder Impfwillige ein Impfangebot haben?
Alle erwachsenen Impfwilligen sollen sich noch im Juli das erstes Mal impfen lassen können. Dies sei allein mit den Lieferungen durch Biontech/Pfizer und Moderna möglich, hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vergangene Woche mitgeteilt. Für Kinder und Jugendliche über 12 soll bis Ende August mindestens die erste Impfung möglich gemacht werden. Allen Nichtgeimpften prophezeit der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler: "Dieses Virus wird auf Dauer jeden Deutschen infizieren, der nicht geschützt ist durch eine Impfung."
Welche Folgen wären für das Infektionsgeschehen zu erwarten, wenn bald alle Einschränkungen aufgehoben würden?
Die Szenarien versuchen mehrere Teams bundesweit anhand bestimmter Annahmen mit Modellen vorherzusagen - diese sind jedoch stets mit Unsicherheiten behaftet. Die Gruppe um den Mobilitätsforscher Kai Nagel von der TU Berlin erklärte am Dienstag auf Anfrage, in ihrem Modell "ergäbe sich nach der Aufhebung aller Restriktionen eine relativ schnell durchlaufende vierte Herbstwelle", die zu einer Überlastung der Kliniken führen könne.
Auch laut Robert Koch-Institut (RKI) könnte sich die Delta-Variante auf die Belegung der Intensivstationen auswirken - wenn die Impfquoten bei Menschen zwischen 12 und 59 Jahren bei 75 Prozent oder gar 65 Prozent stagniere und gleichzeitig eine komplette Öffnung stattfinde, wie aus einem Papier zu Impfzielen vom Montag hervorgeht."Je niedriger im Herbst die erreichten Impfquoten sind, desto weniger sind bei Dominanz der DeltaVariante die Basishygienemaßnahmen ausreichend und weitere kontaktreduzierende Maßnahmen wären notwendig."
Was ist mit den Kindern?
Kinder bis 12 können sich nicht impfen lassen. Für sie käme ein kompletter Verzicht auf Corona-Beschränkungen in den Herbst hinein einer weitgehenden Immunisierung durch Infektion gleich - so die Modellierer-Gruppe der TU Berlin. Für Kinder ab 12 bleibt die Impfung die Entscheidung jeder einzelnen Familie und ihrer Kinderärztinnen und -ärzte. Dabei hat es auch für die Immunität in der Bevölkerung Auswirkungen, ob sich viele Kinder impfen lassen. So hat der Immunologe Carsten Watzl eine Schwelle von rund 85 Prozent für Herdenimmunität als schwer erreichbar bezeichnet, solange es für Kinder unter 12 Jahren keinen zugelassenen Impfstoff und für Minderjährige keine allgemeine Impfempfehlung gebe. (dpa/fra)
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