Am 23. August vor acht Jahren entkam Natascha Kampusch ihrem Kidnapper Wolfgang Priklopil, der sie achteinhalb Jahre lang in seinem Haus gefangen gehalten hatte. Ihr Martyrium verdankt die mittlerweile 26-Jährige unter anderem einigen Ermittlungspannen seitens der Polizei. Bis heute gibt der Entführungsfall Rätsel auf.

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Eine junge, abgemagerte Frau steht barfuß im Vorgarten eines Wohnhauses im österreichischen Strasshof bei Wien und klopft panisch an eine Fensterscheibe im Erdgeschoss. Es ist der 23. August 2006 gegen Mittag. "Bitte holen Sie die Wiener Polizei", ruft sie der Hausbewohnerin durch das geschlossene Fenster zu. "Ich bin die Natascha Kampusch. Ich bin entführt worden". Natascha Kampusch hatte bis zu diesem Zeitpunkt achteinhalb Jahre in Gefangenschaft verbracht. Sie verschwand am 2. März 1998 auf dem Weg zur Schule. Damals war sie zehn Jahre alt.

Als Natascha am besagten Tag nicht wie sonst aus dem Hort zurückkehrt, verständigt ihre Mutter Brigitta Sirny die Polizei. Die Fahndung nach der Tochter wird eingeleitet. Ein zwölfjähriges Mädchen gibt an, am Morgen des 2. März beobachtet zu haben, wie ein Kind von einem Mann in einen weißen Kastenwagen mit dunklen Scheiben gezerrt worden sei. Eine weitere Person soll am Steuer des Wagens gesessen haben.

Eine Rasterfahndung nach Besitzern von entsprechenden Fahrzeugen spuckt über 1.000 Adressen aus, darunter auch die des 35-jährigen Wolfgang Priklopil, wohnhaft in Strasshof Nordbahn, Heinestraße 60. Beamte begutachten daraufhin sein Auto. Er brauche es, um Bauschutt zu transportieren, gibt der gelernte Nachrichtenelektroniker zu Protokoll. Tatsächlich stellen die Polizisten Spuren von Baumaterialien im Wagen sicher und sehen von weiteren Untersuchungen ab. Auch, dass Priklopil am Entführungstag allein zu Hause gewesen sei, genügt den Beamten als entlastendes Alibi.Ein weiterer Tipp auf Wolfgang Priklopil als Täter flattert der Wiener Kriminalpolizei wenig später auf den Schreibtisch: Am 14. Mai beschuldigt ein aus Strasshof stammender Polizeihundeführer anonym seinen Nachbarn mit dem weißen Kastenwagen als sozial gestörten Eigenbrötler. Dieser soll einen Hang zu Kindern und zudem sein Haus mit Alarmanlagen komplett abgesichert haben. Die Beamten gehen diesen Hinweisen jedoch nicht nach. Schließlich ist Priklopil bereits befragt worden und gilt darum bereits als nicht tatverdächtig. Dafür rückt Nataschas Mutter gemeinsam mit einem befreundeten Industriellen in den Mittelpunkt der Ermittlungen.

Ob die Polizei Nataschas Verlies bei einer Hausdurchsuchung überhaupt gefunden hätte, bleibt fraglich. Priklopil hat vorgesorgt: Der Eingang liegt in einer Montagegrube in der Garage hinter einem an der Wand festgeschraubten Tresor. Zusätzlich schneiden eine Beton- und zwei Holztüren die karge Kammer von der Außenwelt ab. Natascha sagt später gegenüber der Polizei aus, vor allem als Arbeitssklavin gehalten worden zu sein. Körperliche und psychische Misshandlungen wie Nahrungsentzug sollten das Mädchen für diese Aufgabe gefügig machen. Dies gelingt nur bedingt.

"Ich habe sozusagen mit meinem älteren Ich einen Pakt geschlossen, dass es kommen und das zwölfjährige Mädchen befreien würde", erzählt Natascha Kampusch nach ihrer Flucht dem ORF. Als Priklopil die bereits 18-Jährige am 23. August 2006 einen Moment aus den Augen lässt, nutzt sie ihre Chance und rennt davon. Am selben Abend gegen 20.50 Uhr wird Priklopil in Wien von einem Zug überrollt. Der Täter scheint durch seinen Suizid überführt. Doch der Fall Kampusch ist damit noch lange nicht abgeschlossen.

Kampuschs Geschichte wird zum medialen Großereignis – ihr Gesicht weltberühmt. Diverse Verschwörungstheorien entstehen, denn so mancher zweifelt an ihrer Version der Entführungsgeschichte. Vor allem an Priklopil als Einzeltäter wollen Kritiker nicht so recht glauben, zumal die Tatzeugin ja zwei Täter gesehen haben will. Kampusch verklagt den österreichischen Staat auf eine Million Euro, da die Ermittler den Aussagen des Mädchens damals nicht vehementer nachgegangen waren. Von einer weiteren Person im Lieferwagen möchte sie allerdings nichts wissen.

Auch der Selbstmord von Polizist Franz Kröll lässt Kritiker hellhörig werden. Der Chefermittler einer unabhängigen Sonderkommission, die Ermittlungspannen im Fall Kampusch aufdecken sollte, sammelte mit Johann Rzeszut, Präsident des Obersten Gerichtshofes, seit 2008 Belege für Ungereimtheiten in der Causa Kampusch. So etwa soll sich Ernst H., der enge Vertraute Priklopils, bei seinen Vernehmungen in Widersprüche verstrickt haben. Zeugen gaben zudem an, H. gemeinsam mit Priklopil und einem jungen Mädchen gesehen zu haben. Doch die Justiz wollte laut Rzeszut den Fall so schnell wie möglich zu den Akten legen. Kröll wird 2010 erschossen aufgefunden. Sein Bruder Karl glaubt nicht an den vom Gericht festgestellten Selbstmord. "Ich bin davon überzeugt, dass sie den Franz liquidiert haben. Der hat zu viel gewusst", sagt er 2012 in einem Interview gegenüber des Schweizer Newsportals "20min.ch".

Eine Untersuchung durch das Deutsche Bundeskriminalamt und das amerikanische FBI von 2012 erbringt keinerlei Hinweise für eine Mehrtäterschaft. Ruhe kehrt trotzdem nicht ein, Privatpersonen forschen weiter nach. Am 18. August 2014 wird ein 63 Jahre alter Polizist im Fall Natascha Kampusch wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Monaten bedingter Haft verurteilt. Der suspendierte Beamte ist davon überzeugt, die leibliche Tochter von Natascha Kampusch in einer niederösterreichischen Volksschule gefunden zu haben. Er versuchte auf eigene Faust an DNA des Kindes zu gelangen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

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