Mehrere Ausbrüche aus deutschen Gefängnissen binnen kurzer Zeit beunruhigen die Bevölkerung. Fragen werden laut. Herrscht Chaos in deutschen Justizvollzugsanstalten? Rene Müller von der Gewerkschaft Strafvollzug spricht von "zunehmend bedenklicheren" Zuständen und macht die Politik verantwortlich.

Ein Interview

Gleich neun Gefangene brachen zwischen den Jahren aus der Justizvollzuganstalt Plötzensee aus der JVA Plötzensee aus. Aus der Jugendstrafanstalt Arnstadt konnten vergangenen Freitag drei Männer fliehen, darunter ein verurteilter Mörder.

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Dieser Tage verlängerte ein zweifacher Mörder, der in der JVA Tegel einsitzt, seinen Freigang mir nichts, dir nichts, um 16 Stunden.

Häme, Spott und Unverständnis sind groß. Sind die Zustände in deutschen Gefängnissen chaotisch? Oder ist die Häufung nur ein unglücklicher Zufall? Unsere Redaktion sprach mit Rene Müller. Er ist Strafvollzugsbeamter und Sprecher der Gewerkschaft Strafvollzug BSBD.

Herr Müller, es wirkt, als mehrten sich die Ausbrüche aus deutschen Gefängnissen. Richtig oder täuscht der Eindruck?
Rene Müller: Neu sind neun Entweichungen aus einer JVA in einer Woche, der JVA Plötzensee. Das ist in dieser Menge beispiellos, das habe ich in den 27 Jahren Arbeit im Vollzug in solch kurzer Zeit noch nie erlebt.

Wo liegt der Unterschied?

Die Sicherungsvorkehrungen im geschlossenen Vollzug sind sehr viel stärker. Bei den Entweichungen aus dem offenen Vollzug waren auch sogenannte Nicht-Rückkehrer dabei. Diese kehren zum Beispiel aus Haftlockerungen wie Urlaub oder Freigang nicht zurück.

Wenn also Häftlinge auch aus dem geschlossenen Vollzug ausbrechen, müssen die Missstände umso gravierender sein.

Sicherlich. Im Durchschnitt liegen die Ausbrüche aus dem geschlossenen Vollzug in ganz Deutschland im Jahr im einstelligen Bereich.

Zwischen 2010 und 2012 gab es, so die neuesten verlässlichen Zahlen, sechs bis acht Entweichungen pro Jahr aus dem geschlossenen Vollzug.

Nach der Häufung von Ausbrüchen drängt sich der Eindruck auf, als herrschten regelrecht chaotische Zustände in deutschen Gefängnissen.

Chaotisch nicht, aber es wird zunehmend bedenklicher, weil einfach das Personal in den Anstalten fehlt. Bis vor drei Jahren hatten wir - je nach Bundesland - sinkende oder stagnierende Gefangenenzahlen. Die Politik fuhr die Ausbildung neuer Kollegen daraufhin drastisch zurück.

Das heißt konkret?

Es gab Bundesländer, die überhaupt gar keine neuen Beamten mehr ausgebildet haben, Hamburg zum Beispiel. Das Justizbehörde in Hamburg hat nun festgestellt, dass 130 Bedienstete fehlen. In Berlin fehlen 200 Bedienstete.

Das sind bedenkliche Zahlen, die die Justizministerien selbst feststellen. Deutschlandweit fehlen Schätzungen der Gewerkschaft Strafvollzug zufolge rund 2.000 Bedienstete, auch, weil viele Bedienstete altersbedingt in Pension gehen und ihre Stellen nicht ersetzt werden.

Welche Folgen hat der Personalmangel?

Projizieren wir es mal auf den Stationsdienst: Die Nachtdienste sind vielerorts unterbesetzt. Mitunter sind nur die Hälfte der benötigten Beamten da. In Berlin können bestimmte Kontrollgänge gar nicht mehr gelaufen werden.

Einzelne Stationen werden gar nicht mehr kontrolliert?

Ein Beispiel: Sie bräuchten zehn Beamte im Nachtdienst, es sind aber nur sechs vor Ort. Die Kollegen müssen auch mal Notlichter bearbeiten, wenn Insassen zum Beispiel krank sind. Dann bleiben schon mal Kontrollgänge im Außenbereich der Anstalt auf der Strecke.

Bedeutet weniger Kontrolle auch mehr Gewalt?

Ja. Ein Beispiel: Ein Bediensteter muss zwei Stationen gleichzeitig beaufsichtigen. Da kann es vorkommen, dass Gefangene ihn am Ende eines Flures in ein Gespräch verwickeln. Was am anderen Ende des Flures passiert, zum Beispiel Handgreiflichkeiten, kann ein Beamter dann gar nicht mitbekommen.

Werden die Beamten aus Ihrer Sicht im Stich gelassen?

Es wird derzeit viel über Übergriffe gegen Polizisten und Feuerwehrleute gesprochen. Das ist gut so. Doch die Übergriffe gibt es auch im Strafvollzug.

Wir hatten vergangene Woche drei Kollegen in der JVA Iserlohn, die von einem Gefangenen angegriffen wurden, der sie mit heißem Wasser überbrüht hat.

Einen der Kollegen habe ich erst besucht. Er liegt immer noch mit schwersten Verbrühungen im Krankenhaus. Die Kollegen fühlen sich durch die Politik allein gelassen.

Berlin bekommt nach den Ausbrüchen aus der JVA Plötzensee viel Spott ab, zumal auch die Berliner Polizei in der Kritik steht: Sie soll von

kriminellen Clans unterwandert werden. Ist letzteres im Strafvollzug auch denkbar?

Uns fehlen unter anderem wegen der besseren Bezahlung in anderen Behörden oft geeignete Bewerber. Aufgrund solcher Notsituationen rutscht auch mal einer durch, den wir vielleicht besser nicht als Beamten haben wollen.

Und dann passieren solche Peinlichkeiten wie in der JVA Plötzensee?

Gefangene haben 24 Stunden am Tag Zeit, sich zu überlegen, wie sie ausbrechen könnten. Wenn sich eine Sicherheitslücke auftut, wissen die Gefangenen das zu nutzen.

Im Fall Plötzensee waren es mehrere verwinkelte Räume einer Werkstatt. Das Wachpersonal kann dann eben nicht immer überall sein.

Die Beamten können wegen des Personalmangels unter Umständen nicht mehr alle Sicherheitslücken erkennen. So war es auch in diesem Fall.

Der 50-jährige Rene Müller ist Personalratsvorsitzender der Hamburger Justizvollzugsanstalt und Sprecher der Gewerkschaft Strafvollzug BSBD.
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