Warum wurde der spätere Weihnachtsmarkt-Attentäter nicht engmaschig überwacht oder festgenommen? Das könnte auch mit einer Einschätzung des BKA zusammenhängen. Die Behörde schürte Anfang 2016 Zweifel an der Glaubhaftigkeit von Hinweisen auf Anschlagspläne des Tunesiers.

Mehr Panoramathemen finden Sie hier

Das Bundeskriminalamt (BKA) gerät bei der Aufklärung der Behördenfehler rund um den Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt in Erklärungsnot. Wie aus einem internen E-Mail-Wechsel hervorgeht, den die Deutsche Presse-Agentur einsehen konnte, hat das BKA zehn Monate vor dem Anschlag Hinweise zur Gefährlichkeit des späteren Attentäters Anis Amri heruntergespielt. Noch unklar ist, inwieweit das Bundesinnenministerium daran beteiligt war.

Amri hat am 19. Dezember 2016 einen Lastwagenfahrer erschossen und ist mit dessen Fahrzeug über den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gerast. Insgesamt tötete er zwölf Menschen. Nach seiner Flucht wurde er in Italien von der Polizei erschossen.

"Hochgradig unprofessionell"

Die Hinweise, die das BKA im Februar 2016 anzweifelte, stammten von einem Informanten des Landeskriminalamtes (LKA) aus Nordrhein-Westfalen. Dieser V-Mann lieferte dem LKA über Monate Informationen zu Amris Wunsch, einen Anschlag zu begehen, sowie zu Aktivitäten weiterer radikaler Islamisten aus der Gruppe um den Hassprediger Abu Walaa aus Hildesheim.

"Es ist wirklich insgesamt eine Frechheit und hochgradig unprofessionell wie NRW hier agiert", schrieb ein BKA-Beamter am 24. Februar 2016 an vier Kollegen. Der Grund für seine Verärgerung: Ermittler aus NRW hatten Amri als "Gefährder" eingestuft - also als jemand, dem ein Anschlag zuzutrauen ist - und drangen auf eine intensive Überwachung des Tunesiers.

Am Vortag hatte es beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eine Besprechung gegeben. Dabei ging es nach Angaben mehrerer Teilnehmer hoch her. Streitpunkt war die unterschiedliche Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Aussagen des Informanten, die vom LKA in NRW hoch, vom BKA aber niedrig bewertet wurde.

Gab es ein Vier-Augen-Gespräch?

Ein Ermittler aus NRW hatte als Zeuge im Ausschuss im vergangenen November erklärt, der Verfasser der E-Mail habe ihm damals am Rande der Besprechung in einem Vier-Augen-Gespräch gesagt, ein Vorgesetzter und das Bundesinnenministerium wollten, dass der V-Mann "aus dem Spiel genommen" wird. Der Mann mache "zu viel Arbeit".

Diese Darstellung hat das Ministerium einen Tag später bestritten. Der Beamte selbst führte schriftlich aus: "Das von dem Zeugen "KHK M." laut Presse berichtete Vier-Augen-Gespräch fand nicht statt". Er "habe keine Aussagen getätigt, die den Schluss zulassen könnten, dass das Ergebnis der Bewertung von einem vorgesetzten Beamten oder einer vorgesetzten Dienststelle festgelegt oder vorgegeben worden sei."

In seiner Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss des Bundestages relativierte der BKA-Beamte am Donnerstag sein früheres Dementi. Er könne nicht ausschließen, dass es ein kurzes, beiläufiges Gespräch etwa auf der Treppe, auf dem Parkplatz oder auf der Toilette am 23. Februar 2016 in Karlsruhe gegeben habe, sagte er während der Befragung durch die Abgeordneten in Berlin. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Vier-Augen-Gespräch stattgefunden hat, ich kann es aber natürlich nicht mehr ausschließen."

Ermittler war sehr "aufgebracht"

Ein Oberstaatsanwalt, der damals an der Besprechung in Karlsruhe teilgenommen hatte, sagte, der Ermittler aus NRW habe ihm kurz nach der Besprechung über ein Vier-Augen-Gespräch mit dem BKA-Beamten berichtet und sei sehr "aufgebracht" gewesen. Der Jurist erinnerte sich nicht mehr an den Wortlaut seiner damaligen Unterhaltung. Er sei sich aber sicher, dass der Polizist aus Düsseldorf damals zornig gewesen sei, dass es neben sachlichen Argumenten, die von BKA-Mitarbeitern in der Besprechung vorgetragen worden seien, wohl "weitere dahinter stehende" Gründe für die Bewertung der Hinweise des Informanten als eher unglaubhaft gegeben habe.

"Ich persönlich habe keinen Zweifel daran, dass es dieses Vier-Augen-Gespräch gegeben hat", sagte der Oberstaatsanwalt. Schließlich habe der Ermittler nicht nur ihm, sondern auch mehreren Kollegen davon berichtet. Außerdem hätte er damals - als noch nicht bekannt war, dass Amri den schwersten islamistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik begehen würde - wohl keinen Anlass gehabt, dieses vertrauliche Gespräch zu erfinden.

Überlastung oder Fehleinschätzung?

Doch warum wollte das BKA damals nicht, dass die Informationen des V-Mannes ernst genommen werden? Drei Motive sind denkbar: Arbeitsüberlastung der Polizei angesichts der hohen Zahl von Islamisten, denen man einen Anschlag zutraute. Schließlich gab es beim LKA Nordrhein-Westfalen Überlegungen, das BKA zu bitten, den Fall Amri zu übernehmen. Vielleicht war es aber auch einfach eine Fehleinschätzung, weil man verdächtig fand, dass dieser V-Mann mehr Informationen lieferte als jeder andere Informant. Oder Amri sollte nicht von der Straße genommen werden, weil er mit IS-Anhängern in Nordafrika in Kontakt stand, für die sich womöglich ein ausländischer Nachrichtendienst interessierte. Bewiesen ist davon bisher nichts.

"Nicht gerade mit Ruhm bekleckert"

Aus dem E-Mail-Verkehr der BKA-Beamten geht außerdem hervor, dass sie mit der Arbeitsweise des Landeskriminalamts in Berlin, wo sich Amri zuletzt hauptsächlich aufhielt, nicht einverstanden waren. Die Berliner, heißt es dort, hätten sich in Bezug auf die Observation des tunesischen Islamisten "nicht gerade mit Ruhm bekleckert".

Der BKA-Beamte sagte in der Befragung, in der Gefährdungsbewertungsstelle des BKA seien im Jahr 2016 mehr als 460 Hinweise eingegangen. In einer idealen Welt hätte man allen Hinweisen im Detail nachgehen können. In der Praxis sei dies aber "natürlich überhaupt nicht machbar gewesen", da habe man Prioritäten setzen müssen. Außerdem habe man es damals für sehr unwahrscheinlich gehalten, dass ein Informant wie der von NRW geführte V-Mann von verschiedenen Anschlagsszenarien Kenntnis erhalten habe, ohne selbst daran beteiligt zu sein. Das sei so wahrscheinlich "wie ein Sechser im Lotto". (dpa/sg)

Baby fällt kopfüber von Ladentheke – und wird im letzten Moment gerettet

Ein Baby ist am Samstag in einem Pfandladen in Utah beinahe von der Theke gefallen. Der Geschäftsführer war allerdings aufmerksam und rechtzeitig zur Stelle.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.