Der akute Personalmangel in deutschen Kitas zwingt Politik und Träger zu kurzfristigen Lösungen. Experten sind besorgt um die Bildungsqualität. Besonders im Westen fehlen Plätze und Fachkräfte, während im Osten Personalabbau droht.

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Am Zaun der Kita hängt ein auffällig großes Banner. Darauf bitten vier niedliche Kinder: "Superheld/In gesucht! Bewirb dich hier!" Wie diese Einrichtung im Rheinland suchen viele Kindertagesstätten in Deutschland dringend Personal. Kommunen schaffen mit massiven Anstrengungen mehr Plätze, Kita-Träger und Politik versuchen, Lücken auch mit kurzfristigen Lösungen zu stopfen. Experten sorgen sich um die Qualität der Bildung für die Jüngsten, wenn in den nächsten Tagen - in vielen Bundesländern am 1. August - das neue Kita-Jahr beginnt.

Abstriche bei der Qualifikation aus Personalnot?

In fast allen westlichen Bundesländern würden Zugangsvoraussetzungen gesenkt, um schnell Personal – Quereinsteiger, Menschen ohne pädagogische Erfahrung - zu gewinnen, beobachtet Bildungsforscherin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung. "Es gibt einen Trend zu niedrigeren Anforderungen." Beispiele: In Hessen könnten bis zu 25 Prozent des Personals mit lediglich einer 160-Stunden-Weiterbildung tätig werden. In Bayern seien Anforderungen an die Kitaleitung gesenkt und Schnellqualifizierungen eingeführt worden. Rasch wirkende Wege seien wegen der Personalnot derzeit "alternativlos". Aber: "Das darf nicht schleichend zum Standard werden", sagt Stein.

Die Konzepte und Quereinsteigermodelle der Länder fallen in den Ländern sehr unterschiedlich aus, berichtet auch Tina Friederich von der Katholischen Stiftungshochschule München. In Baden-Württemberg könnten einige Berufsgruppen - etwa Logopädinnen, Krankengymnasten oder Hebammen - "einfach so" in die Kita einsteigen und dann einen berufsbegleitenden Kurs absolvieren. Mit Blick auf die Alltagshelfer in NRW gebe es ebenfalls Skepsis, denn: Ihre Assistenztätigkeit könne auch in den pädagogischen Bereich hineinreichen, das sei schwer zu trennen.

Beide Wissenschaftlerinnen sehen kritisch, dass Mecklenburg-Vorpommern vor einigen Jahren eine nur maximal dreijährige Ausbildung zur Fachkraft eingeführt hat. Das sei deutlich weniger umfangreich als eine Erzieherinnen-Ausbildung von mindestens vier Jahren und bedeute eine Niveau-Senkung.

Der Mangel an Personal und Plätzen enorm - im Westen stärker

Zuletzt fehlten bundesweit rund 430.000 Plätze, besonders für die Kleinsten unter drei Jahren reiche es nicht, sagt Stein. Die jüngsten Zahlen seien von 2023 und hätten sich seitdem nicht wesentlich verändert. Es brauche zusätzlich etwa 100.000 Fachkräfte, die allermeisten davon in Westdeutschland, allein fast 28.000 im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW. Dort stehen laut Düsseldorfer Familienministerium 764.225 Betreuungsplätze bereit, nach einem Plus von 53.000 Plätzen binnen fünf Jahren.

Anders sieht es in den ostdeutschen Bundesländern aus. Dort werden Stein zufolge zum Teil sogar schon Fachkräfte entlassen, unter anderem wegen sinkender Geburtenzahlen. Aber: "Es wäre wichtig, diese Kräfte im System zu halten. Es besteht die historisch einmalige Chance, dass sich in Ost und West die Personalschlüssel als Qualitätsmerkmal angleichen."

Qualität der frühkindlichen Bildungsarbeit muss stärker in den Fokus

"Die Qualität gerät aus dem Blick. Dabei werden schon mehr als die Hälfte aller Kinder in Deutschland in Gruppen mit einem nicht kindgerechten Personalschlüssel betreut", kritisiert Stein. Die ersten Jahre gelten als zentral für die gesamte Entwicklung eines Menschen. Gute Beziehungsarbeit und gute ganzheitliche Basisbildungsarbeit seien das A und O. "Was in den ersten Lebensjahren an Erfahrungen aufgebaut wird, bleibt ein Leben lang erhalten. Um jedes Kind da abzuholen, wo es steht, braucht es genügend Fachkräfte."

Es sei eine "Erosion" bei der Qualifikation des Kita-Personals in den kommenden Jahren zu befürchten, fürchtet Friederich, die auch Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit (BAG-BEK) ist. "Die Schere wird weiter auseinandergehen, wenn es nicht gelingt, mehr qualifiziertes Personal zu gewinnen." Jungen und Mädchen, deren Familien eine Förderung aus unterschiedlichen Gründen daheim nicht leisten könnten, seien die Leidtragenden. "Hier wird man in den Kitas nicht mehr ausreichend gegensteuern und kompensieren können, was aber die Aufgabe einer guten Kita ist."

"Kita des Jahres 2023" meistert längst überfälligen Strukturwandel

In ganz Deutschland fehlen Kitaplätze. Die Situation für Eltern, Erziehende und Kinder sei untragbar, sagt Frühpädagogik-Expertin Ilse Wehrmann. Gruppen seien zu groß, es gebe zu wenig Personal, und Kinder würden veralteten Strukturen untergeordnet. In der Kita „Heide-Süd“ in Halle an der Saale sieht Wehrmann ein Vorzeigeprojekt, das das nötige Umdenken in neue Strukturen bereits gemeistert habe. Die Kindertagesstätte ist "Kita des Jahres 2023".

Große Herausforderungen und Ruf nach Reformen

Die XS-Personaldecke führt oft dazu, dass Eltern mit kurzfristig gekürzten Öffnungszeiten oder tagelang geschlossener Kita ringen müssen. Die Belastung des Personals sei stark gestiegen, krankheitsbedingte Ausfälle die Folge, berichtet Stein. Der Landeselternbeirat NRW warnt davor, Öffnungszeiten wegen des Fachkräftemangels generell zu verringern. Damit wäre die Vereinbarkeit von Familie und Beruf infrage gestellt. "Kinder mit besonderen Förderbedarfen könnten zu den Verlierern im Falle reduzierter Öffnungszeiten gehören."

Friederich beschreibt das Dilemma: Die Träger müssten den einklagbaren Elternanspruch auf einen Kitaplatz gewährleisten - Personallücken unbedingt schließen. Die Politik in den Ländern sehe sich gezwungen, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Dennoch sollten Mindeststandards für Quereinsteiger 200 Stunden Grundschulung sein - für Basiskenntnisse in Entwicklungspsychologie, Kinderschutz und pädagogischer Haltung. Danach solle die Person in der Kita nur gemeinsam mit einer Fachkraft tätig werden, sich berufsbegleitend weiter qualifizieren. In NRW sieht ein neues Modell "QiK" 120 Unterrichtsstunden und dann für zwei Jahre berufsbegleitend Fortbildungen vor - danach kann eine verkürzte Kinderpflege-Ausbildung folgen.

Attraktivität und Einheitlichkeit des Berufs

Der Erzieherberuf müsse finanziell attraktiver werden und mehr Entwicklungsoptionen für Erzieherinnen eröffnen, sagt Stein. Außerdem brauche es bundeseinheitliche Standards für Qualifizierungen, die transparenter und unter den Bundesländern vergleichbar seien. Immer mehr Einstiegs- und Quereinstiegsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Anforderungen in den Ländern mache die Ausbildung auf Dauer immer weniger vergleichbar. "Das verschwimmt jetzt schon", sagt Stein.

Auch die Wirtschaft müsse finanziell beitragen, fordert die BAG-BEK. Jeder Arbeitgeber solle zu einer angemessenen Abgabe für die unterfinanzierten Kitas verpflichtet werden. Die Wirtschaft profitiere schließlich direkt vom Angebot ausreichender Betreuungsplätze. "Wir müssen die Kita-Krise für Reformen des Systems Kita nutzen.", sagt Friederich. (dpa/phs)

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