Was passierte im September 2014 in der südmexikanischen Stadt Iguala? Fünf Jahre nach den Ereignissen und 450.000 Seiten Ermittlungsakten später ist die drängendste Frage nach dem Verbleib von 43 Studenten noch immer ungeklärt. Behörden präsentierten eine "historische Wahrheit", angebliche Zeugen und Leichenteile. Doch diese Version ist längst widerlegt.
Der Fall von Iguala enthält das, was man "Stoff für einen Krimi" nennt: Mord, Verschleppung, Korruption. Für die Angehörigen der 43 Studenten, die 2014 verschwanden, handelt es sich jedoch um einen seit fünf Jahren andauernden Albtraum. Im Jahr 2019 haben sie noch immer keine Klarheit über den genauen Ablauf der Ereignisse vom 26. September 2014.
Entführung in Iguala: Was wissen wir?
Damals machten sich etwa 100 Lehramtsstudenten der "Escuela normal rural" - einer Lehrerausbildungsstätte für Töchter und Söhne von Bauern im Bundesstaat Guerrero - auf den Weg nach Iguala. Dort, knapp 200 Kilometer von Mexiko-City entfernt, wollten die Studierenden auf einer Veranstaltung des Bürgermeisters Jose Luis Abarca und seiner Frau Maria de los Angeles Pineda Villa gegen Korruption demonstrieren.
Die Studenten planten, das Presseaufkommen zu nutzen - Los Angeles Pineda Villa verkündete ihre Kandidatur zur Nachfolge des bestehenden Bürgermeisters.
Die "Escuela normal rural" gilt als linksausgerichtet und ist bekannt für ihre politisch aktiven Studenten, die ihre Ziele teils radikal umsetzen. Für ihre Reise nach Iguala, eine Fahrt von gut vier Stunden, kaperte die Gruppe fünf Busse und zwang die Busfahrer, die Route nach Iguala einzuschlagen. In Guerrero, einem von Drogenkartellen und Kriminalität geprägten Bundesstaat, sind solche Aktionen an der Tagesordnung.
Polizei stoppt Studentengruppe gewaltsam
Gegen Abend wurden die Anti-Korruptionsaktivisten von der örtlichen Polizei in Iguala gestoppt. Das soll auf Anweisung des Bürgermeisters geschehen sein, um die Störung seiner Veranstaltung zu verhindern. Seine Ehefrau gilt als eng verbandelt mit dem örtlichen Verbrechersyndikat "Guerreros Unidos".
Ein Handyvideo, aufgenommen von einem der Studenten, dokumentiert, wie die Polizei das Feuer eröffnet. Die Studenten verteidigen sich, indem sie Steine werfen. Auf dem Video hört man verzweifelte Rufe der Männer: "Warum zielt ihr auf uns? Wir haben keine Waffen!" Bei dem Gefecht stirbt ein Student, Dutzende flüchten schwer verletzt. 43 Studenten aber werden von der Polizei verschleppt.
Tödliche Schüsse aus Wagen
Kurze Zeit später erscheinen Pressevertreter, Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Studentengruppe am Tatort. Sie wollen schnellstmöglich aufklären, wohin die Polizei die Studenten gebracht hat. Von öffentlichen Behörden oder Sicherheitskräften fehlt jede Spur.
Plötzlich fahren ungekennzeichnete Wagen vor. Darin sitzen Männer in schusssicheren Westen und eröffnen das Feuer auf die Menschenansammlung. Sechs Personen sterben.
Iguala: Wie laufen die Ermittlungen ab?
Die Behörden zögern zunächst mit der Einleitung von Untersuchungen. Schnell formieren sich freiwillige Suchtrupps. Die mexikanischen Bundesbehörden nehmen unter dem Druck der Familien und der Weltöffentlichkeit zwei Tage später 22 Polizeioffiziere fest und entwaffnen die Polizei in Iguala.
Offen bleiben die Fragen: Wohin haben die Polizisten die 43 jungen Menschen gebracht, wem haben sie sie übergeben? Im selben Zeitraum tauchen Abarca und seine Frau unter.
Familien ziehen Expertenteam aus Argentinien hinzu
Die Familien misstrauen den offiziellen Untersuchungen, auch als wenige Tage später ein Massengrab mit 28 Leichen entdeckt wird. Sie ziehen daher ein argentinisches Team aus Forensikern hinzu, welches bereits an Tatorten im Kongo, in Kolumbien und El Salvador zugegen war.
Schnell steht fest: Von den 28 Leichen lässt sich keine den Lehramtsanwärtern zuordnen. Der Zorn der Bevölkerung entlädt sich in Massenprotesten, Demonstranten zünden politische Einrichtungen an und plündern Supermärkte.
Die Eltern der Verschwundenen wollen nicht glauben, dass ihre Kinder tot sind. Bei einem Treffen drängen sie den damaligen Präsidenten Enrique Pena Nieto zu der Zusage, nach den Studenten zu suchen. "Ihr habt sie uns lebend genommen, wir wollen sie lebend zurück", rufen die Angehörigen.
Wie lautet die offizielle Version?
Anfang November wird das flüchtige Bürgermeisterehepaar gefasst und in Cocula - knapp sieben Stunden von der Hauptstadt entfernt - wird ein weiteres Massengrab entdeckt. Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam präsentiert den Angehörigen der Vermissten am 7. November daraufhin die "historische Wahrheit".
Sie lautet: Die Polizei von Iguala habe die Studenten an drei Kriminelle des Verbrechersyndikats "Guerreros Unidos" übergeben. Diese sollen die Studenten gefoltert, ermordet und anschließend auf einer Müllkippe verbrannt haben.
Die Überreste sollen sie in Plastiktüten in den Fluss geworfen haben. Die Behörden präsentieren Mitglieder der Drogenbande, die 17 Morde gesteht. Den Auftrag dafür sollen der städtische Sicherheitsdirektor Felipe Flores Velázquez und ein regionaler Bandenchef erteilt haben.
Warum gibt es Zweifel?
Die Angehörigen wollen diese Version nicht glauben. Und sie haben gute Gründe dafür: Die argentinischen Experten kommen nach monatelangen Untersuchungen zu dem Schluss, dass die Knochenreste von älteren Menschen stammen.
Analysen von Pflanzen zeigten, dass es kein Feuer in der angegebenen Größenordnung gegeben haben kann. Hinzu kommt, dass die Verhafteten, die Aussagen über den Tatverlauf machten, Foltermerkmale aufweisen. Die Ermittler fanden auch heraus, dass Angehörige der Staatsanwaltschaft die Müllsäcke in den Fluss geworfen haben.
Neue Erkenntnisse legen andere Theorie nahe
Die mexikanischen Behörden wollen den Fall Iguala dennoch längst geschlossen wissen. Denn die bestehenden Ungereimtheiten in der offiziellen Version werfen ein Schlaglicht auf die engen Verbindungen von Politik, Sicherheitsorganisationen und Kriminellen in Mexiko. Die Angehörigen halten das Kapitel weiter offen und sprechen von einem Staatsverbrechen.
94 Prozent aller Kriminalfälle werden in Mexiko nicht untersucht, mehr als 30.000 Menschen gelten als verschwunden. Weit über 100.000 sind in den letzten zehn Jahren der organisierten Kriminalität zum Opfer gefallen. Die Angehörigen sind sich sicher, dass die Generalanwaltschaft weiß, wo sich die 43 Studenten befinden - jedoch Funktionäre decken will.
Heroinlieferung an Bord eines Busses?
Trotz der Festnahme im Jahr 2016 vom ehemaligen Polizeichef von Iguala, Felipe Flores, bleiben die Gesamtumstände des Verschwindens ungeklärt. Warum mussten die Studenten sterben und auf wessen Geheiß?
Mit der Festnahme eines Drogenbosses bei einer Routinekontrolle in Chicago im vergangenen Jahr, entstand eine weitere Theorie über die damaligen Geschehnisse. Der Mann wurde nach seiner Festnahme zum Kronzeugen und sagte aus, eine Heroinlieferung, die sich in einem der Busse befand, habe die Studenten das Leben gekostet.
Offene Fragen über Mexikos Zukunft
Der Drogenschmuggel von Mexiko in die USA wurde demnach durch das Kartell "Guerreros Unidos" in Iguala organisiert - dank Geheimfächer in Überlandbussen. Die Kriminellen in Chicago und Mexiko sollen die Studenten für Mitglieder des gegnerischen Kartells "Rojos" gehalten haben.
Ob dies die Hintergründe der blutigen Jagd sind, ist nicht gesichert. Über den Verbleib der Leichen hinaus bleibt eine wichtige Frage offen: Wie und wann gelingt es Mexiko, sich von der Drogenkriminalität loszusagen?
Verwendete Quellen:
- youtube.com: "The Missing 43: Mexico's Disappeared Students (Full Length)"
- youtube.com: "Mexiko: Bürgermeister von Iguala in Haft | Journal"
- youtube.com: "Verschwundene 43: Mexikanische Polizei stellt Bürgermeisterpaar von Iguala"
- taz.de: "Der Fall Iguala bleibt ein Rätsel"
- zeit.de: "Schlüsselfigur des Studentenmassakers gefasst"
- tagesschau.de: "Seit drei Jahren verschwunden"
- tagesspiegel.de: "Eine geheime Heroinfracht besiegelte ihr Schicksal"
- jetzt.de: "Die mexikanische Regierung will die Wahrheit nicht ans Licht bringen"
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