Heinrich Löwen verlor bei dem Zugunglück in Eschede, vor genau 25 Jahren, seine Frau und seine Tochter. Danach setzte er sich für die Hinterbliebenen ein. Mit dem Rechtsstaat kämpfte er darum, dass die Angehörigen ihren Frieden machen können. Seine Erinnerungen an die Zeit nach der Katastrophe.
Wer an diesem Samstagmorgen mit dem ICE durch Niedersachsen fährt, erlebt, wie der Zug auf Höhe von Eschede abbremst und langsam vorbeifährt. "Eine schöne Geste des Respekts", findet Heinrich Löwen. Im Süden der Lüneburger Heide entgleiste am 3. Juni 1998 der ICE 884 – Wilhelm Conrad Röntgen. Er hatte über 200 Passagiere an Bord. Bis heute ist das die größte Zugkatastrophe eines Schnellzuges. 101 Menschen haben diesen Tag nicht überlebt. Über 100 weitere Menschen wurden verletzt. Die meisten von ihnen schwer.
Heinrich Löwen saß selbst nicht in dem Zug. Seine Frau und seine Tochter hat er dabei allerdings verloren. Seitdem hat er sich für die Hinterbliebenen und Verletzten eingesetzt. Bloß drei Wochen nach dem Unfall gründete Löwen die Betroffenen-Initiative "Selbsthilfe Eschede", in der die Zahl der Mitglieder nach kurzer Zeit auf 149 wuchs. Darunter Hinterbliebene von 82 Todesopfern. 67 weitere Mitglieder wurden bei dem Unfall verletzt. Löwen koordinierte die Kommunikation zwischen der Bahn und den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe.
Nach 25 Jahren sind die Bilder des Unglücks noch immer im Kopf
Jedes Jahr am 3. Juni geht Löwen an den 101 Kirschbäumen entlang, bis runter zur Gedenkwand am Bahndamm in Eschede und hält dort am Unfallort eine Ansprache. Vor genau 25 Jahren brach ein paar Kilometer vor der Gedenkstelle um 10:58 Uhr ein Rad. In Sekundenbruchteilen bohrte es sich durch den Boden des ICE und schlug mit einer Geschwindigkeit von über 200 Kilometern pro Stunde auf die Bodenschwellen. Als der Wagen über eine Weiche fuhr, riss der gebrochene Radreifen einen Teil der Weiche aus den Schwellen und der Waggon wurde aus den Gleisen gehoben.
Der Zug befand sich zu dem Zeitpunkt kurz vor einer Straßenbrücke und prallte mit voller Wucht gegen einen Pfeiler. Die Brücke stürzte auf den Zug und begrub die letzten Waggons. Dreieinhalb Sekunden nachdem die Brücke eingestürzt war, stand der ICE still. Der Wagen, auf den die Betonbrücke gefallen ist, war nur noch 60 Zentimeter hoch.
Ein Helfer von damals sagt heute im Gespräch mit der Redaktion: "Es sah aus wie ein Schlachtfeld." Viele hätten die Bilder im Kopf, die Gerüche der Leichen, die lange geborgen werden mussten, lange noch mit sich rumgetragen und mit typischen Belastungserscheinungen und Schlafstörungen zu kämpfen gehabt.
Fehlerhafter Umgang der Bahn mit den Hinterbliebenen
Der Umgang der Bahn mit den Hinterbliebenen, so beschreibt es Löwen, hat die Betroffenen daran gehindert, Frieden zu finden. "Ich kann nicht darüber klagen, wie die Bahn sich heute verhält", sagt er, "aber damals hat sie sich partout als das Unschuldslamm und Opfer betrachtet." Zudem habe die Bahn sich stets bemüht, die Tragödie als Schicksalsschlag abzutun. Obwohl verschiedene Alarmsysteme mögliche Fehler am Radreifen angezeigt hatten.
Zwischen dem 11. April und dem 2. Juni 1998 hat die Diagnosesoftware acht Fehlermeldungen angezeigt. Fatalerweise wurde der Radsatz, trotz anderslautender Arbeitsanweisung, nicht gewechselt. Alles sieht so aus, als hätte eine lange Verkettung menschlicher Fehler den Zug entgleisen lassen.
Der Umgang der Bahn mit den Hinterbliebenen lässt sich am Beispiel von Sieglinde R. aufzeigen. Sie hat durch den Unfall ihren Sohn verloren, der der Restaurantleiter des Zuges war. Zwölf Tage hat man sie im Unklaren über den Zustand ihres Sohnes gehalten, indem man ihr sagte, dass er leicht verletzt in einem Braunschweiger Krankenhaus liege. So geht es aus den Aufzeichnungen Löwens hervor. Nach zwölf Tagen, an denen R. ihn nicht gefunden hat, wurde ihr formlos mitgeteilt, dass ihr Sohn tot sei. Sie verklagte die Bahn.
In der Folgezeit verlangte die Bahn dann Rechnungsbelege für jeden Gegenstand und jedes Kleidungsstück, was der Sohn bei sich trug, die Kaufquittung seiner Unterhose zum Beispiel. Der Vorstandsvorsitzende der Bahn ließ ihr zu dieser Praxis mitteilen, dass sie dies hinnehmen müsse, weil "unser gut organisierter Staat einen solchen Tribut fordert".
Enttäuschender Prozess gegen die Bahn
Erst vier Jahre nach dem Unfall, am 28. August 2002, eröffnete die Staatsanwaltschaft einen Strafprozess, um zu klären, ob der Unfall hätte verhindert werden können. Auf der Anklagebank saßen zwei Bahnbeamte und ein Ingenieur, die alle mit der Entwicklung des Gummirads zu tun hatten. Ein Anwalt der Nebenkläger äußerte sich so: "Es geht den Opfern nicht um eine hohe Strafe für die Angeklagten, es geht ihnen darum, die Schuld der Bahn festzustellen, denn die Bahn hat das bis heute nicht eingestanden." Der Hinterbliebenensprecher sagte: "Es war uns völlig unverständlich, dass nur diese drei Techniker sich verantworten mussten." Ob das "Bauernopfer" waren, fragt sich der mittlerweile 78-jährige Hinterbliebenensprecher. Wieso kein Verantwortlicher der Deutschen Bahn?
Nach 53 Verhandlungstagen wurde das Verfahren gegen Zahlung von jeweils 10.000 Euro eingestellt. Am 8. Mai 2003 kam es zum letzten Termin. Angeklagte und Staatsanwaltschaft stimmten der Einstellung des Verfahrens zu. Alle Bemühungen, das zu verhindern, blieben erfolglos. Auf das Schlusswort Löwens, mit der Einstellung des Verfahrens werde das Vertrauen in den Rechtsstaat tief erschüttert, reagierte der Vorsitzende Richter mit einer Rüge: Nicht durch das Gericht werde das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben, sondern durch Löwens Kritik. Und damit war der Eschede-Prozess zu Ende.
Sogar der ehemalige Chef der Rechtsabteilung des Eisenbahn-Bundesamtes, der wichtigsten staatlichen Aufsichtsbehörde über das Eisenbahnwesen in Deutschland, Hans-Jürgen Kühlwetter, schrieb Löwen nach dem Gerichtsprozess in einem Brief: "Der Ausgang des Prozesses hat mich zutiefst enttäuscht… Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die staatlichen Organe doch einem großen Unternehmen – vornehm ausgedrückt – Rabatt gewähren."
Eine offizielle Entschuldigung gab es erst 15 Jahre später
Sämtliche Beschwerden und Schmerzensgeldforderungen der Nebenkläger wurden abgewiesen. Pro Todesopfer zahlte die Bahn den Angehörigen 30.000 D-Mark und nannte das "besondere Zuwendung" – um keine Schuld anzuerkennen, vermied die Bahn den Ausdruck Schmerzensgeld. 15 Jahre gab es keine öffentliche Entschuldigung. Erst am 3. Juni 2013, dem fünfzehnten Jahrestag der ICE-Katastrophe, entschuldigte sich Rüdiger Grube als Vorstandsvorsitzender der Bahn: "Wir bedauern die Geschehnisse in Eschede zutiefst, wir können den Unfall nicht ungeschehen machen, aber wir wollen uns für das entstandene menschliche Leid bei Ihnen entschuldigen. Auch wenn wir dadurch nichts ungeschehen machen können, bitten wir Sie, unsere Entschuldigung anzunehmen. Sie kommt wirklich von ganzem Herzen." Löwen erinnert sich: "Das war die Aussöhnung."
Löwen hat anlässlich des 25. Jahrestages ein Buch mit seinen Erinnerungen herausgegeben: "ICE 884 – nach der Katastrophe von Eschede". Dort hält er Erinnerungen in Worten und in Dokumenten fest, um, wie er sagt, "aufzuzeigen, was man besser hätte machen können".
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Heinrich Löwen
- Gespräch mit einem Seelsorger und Ersthelfer (Matthias Stalmann)
- Buch: ICE 884 – nach der Katastrophe von Eschede
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