Sie sind jung, männlich, muslimisch – und in der Regel schlecht bis gar nicht integriert: Professor Ahmet Toprak hat ein Buch über türkeistämmige beziehungsweise arabische junge Männer geschrieben. Er erklärt, warum sie häufiger die Schule abbrechen, oft gewalttätig und anfällig für religiöse oder nationalistische Radikalisierung sind und wer für diese Situation verantwortlich ist.

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Was war Ihre Motivation für dieses Buch?

Professor Ahmet Toprak: Ich wollte eine Bestandsaufnahme liefern, warum die türkeistämmigen beziehungsweise muslimischen Jungen in unserer Gesellschaft weniger integriert sind und woher der neue Dreiklang "muslimisch, männlich, aus der Großstadt" kommt.

Sind Sie sich bewusst, dass Sie mit Ihrem Buch all jenen eine Steilvorlage liefern, die sagen: "Die Türken bzw. Araber wollen sich doch gar nicht anpassen. Und wer sich nicht anpassen will, soll gehen!"?

Der Spruch ist mir zu platt, das sage ich in meinem Buch in keiner Weise. Aber mir ist bewusst, dass bei manchen Leuten solch ein Denken durch mein Buch erzeugt wird. Aber wer das Buch liest – nicht nur den Titel –, merkt ganz genau, dass ich eigentlich die Jungen entlaste, weil sie die Leidtragenden sind und ich stattdessen an die Eltern appelliere, ihre Kinder besser vorzubereiten und endlich die traditionellen Geschlechterrollen abzulegen. Das ist die Kernaussage, dabei bleibe ich, weil ich möchte, dass sich etwas bewegt.

Rechnen Sie mit Beschimpfungen oder sogar Bedrohungen?

Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, man kann sachlich und differenziert Kritik äußern, ich verallgemeinere nicht. Ich sage, dass es in bestimmten Milieus diese Problematiken gibt. Leute, die nur den Titel des Buchs lesen und mir dann Vorwürfe machen, nehme ich nicht ernst.

Immer wieder hört man auch die These, andere Migranten, etwa aus Asien oder Osteuropa, machten weniger Probleme als die türkisch- oder arabischstämmigen Migranten. Liest man Ihr Buch, könnte man sich in dieser These bestätigt sehen, oder?

Nein, denn es kommt darauf an, aus welchen Milieus die Zuwanderer kommen. Sehen Sie sich die muslimischen Migranten aus dem Iran an, die vergleichsweise gut integriert sind. Es handelt sich um Menschen aus der iranischen Bildungselite, während aus der Türkei meist die bildungsbenachteiligten Milieus kommen. Deren Integration ist schwieriger. Sie sind bereits im Herkunftsland benachteiligt, und wenn sie nach Deutschland kommen, macht das die Lage nicht besser für sie.

Warum scheitert die Integration der männlichen Muslime so häufig?

Den Söhnen wird in ihrer Entwicklung alles abgenommen, sie müssen sich nicht am Haushalt oder sonstigen Aufgaben beteiligen, sie bekommen bei Fehlverhalten auch keine oder kaum Konsequenzen zu spüren. Die Mutter erzieht den Sohn nicht nur zu einem Macho, sondern auch zu einem unselbstständigen und abhängigen Individuum.

Zur Rolle der Mutter in der Erziehung schreiben Sie: "Der Junge ist zwar frei, trägt aber gleichzeitig Handschellen." Erläutern Sie das genauer!

Der Junge soll später alles können: eine gute Ausbildung absolvieren, einen guten Job bekommen, ein guter Vater sein und für die Familie sorgen. Damit er das leisten kann, muss er frei sein, er muss sich bewegen können, seine Umgebung erkunden und Bedrohungen ausmachen können. Das ist die ländlich-traditionelle Erziehung. Gleichzeitig trägt er gewissermaßen Handschellen, denn diese hohen Ansprüche setzen ihn unter Druck, ohne dass er dabei viel Unterstützung bekäme. Weder in der Sozialisation noch in der Erziehung wird er darauf konkret vorbereitet, wie er die hoch gesteckten Ziele eigentlich erreichen soll.

Warum sind die Mädchen besser integriert und nicht so benachteiligt?

Wenn die Jungen genauso erzogen werden würden wie die Mädchen, gäbe es weniger Probleme. Die Mädchen kommen mit der Schule besser zurecht. In traditionellen Familien wird das Mädchen darauf vorbereitet, eine anständige Hausfrau und gute Mutter zu sein. Es ist nur für Erziehung und Haushalt zuständig. Die Mutter funktioniert als Vorbild für die Tochter, Sachen werden schnell, ordentlich, zielgerichtet und ohne Widerrede erledigt. Wenn nicht, gibt es Sanktionen seitens der Mutter. Dieser Erziehungsmechanismus ist also eine ideale Vorbereitung auf die Schule, wo genau diese Sachen auch erwartet werden. Auch wenn die Intention eine ganz andere ist.

Sie sagen, vielen Eltern ist die religiöse Erziehung in den Koranschulen wichtiger als die schulische Bildung. Warum?

Die Eltern wollen beides: Die Kinder sollen eine gute Bildung bekommen und religiös sein. Die Ansprüche sind sehr hoch, denen kann man nicht gerecht werden. Dazu kommt, dass die Eltern nicht wissen, wie das deutsche Schulsystem funktioniert. Die Verantwortung wird an die Schule abgegeben. Die soll dafür sorgen, dass das Kind Anwalt, Arzt oder sonst etwas wird. Diese Vorstellung ist immer noch, auch in der dritten Generation, in vielen Milieus weit verbreitet. Die Eltern ziehen sich zurück, weil sie sich inkompetent fühlen. Auf der anderen Seite verstehen sie aber, wie der Koranunterricht funktioniert, das kennen sie aus ihrer eigenen Tradition. Deshalb sieht es so aus, als würden sie dem mehr Wert beimessen.

Also gibt es keinen Zusammenhang zwischen Islam und Integration?

Nein, zumindest keinen Automatismus. Religiös sein und integriert sein schließt sich nicht aus. Wenn die Eltern allerdings die Religion höher einordnen als die Schule, ihre Kinder zum Beispiel nicht zum Schwimmunterricht schicken oder ihnen die Teilnahme an Klassenfahrten verbieten, dann ist es integrationsschädlich.

Sie schreiben, viele Väter würden nicht als Vorbild für ihre Söhne taugen. Wer sind dann deren Vorbilder?

In meinem Buch nenne ich zwei Extrembeispiele: Salafismus und Nationalismus. Generell suchen die Jungen in der Entwicklung nach Orientierung, nach Sicherheit – das ist vollkommen normal. In der Theorie stellt der Vater ein Vorbild dar, er ist die Autorität. Doch häufig ist der Vater arbeitslos, gewalttätig, nicht zu Hause oder spielsüchtig. Häufig ist der Sohn ihm auch überlegen, weil er Deutsch spricht, weil er die Gesetze kennt und weiß, wie die Gesellschaft funktioniert. Der Vater fällt als Vorbild aus, die Jungen suchen nach Identität, und die bietet ihnen zum Beispiel ein religiöser Geistlicher im Moscheeverein, die bietet ein Staatspräsident Erdogan oder eben ein Salafistenprediger.

Sie sagen, Gewalt in der Erziehung, physisch oder psychisch, sei in vielen türkeistämmigen Familien noch ganz normal. Warum?

Eine Ohrfeige gilt noch gar nicht als Gewalt, sondern als eine Art Ermahnung. In konservativen, bildungsbenachteiligten Milieus gehört sie dazu. Denn – und das ist das Groteske – man meint, man würde dem Kind damit etwas Gutes tun und es vor Gefahren bewahren. Das ist das Hauptproblem: Es herrscht kein Unrechtsbewusstsein. Auch in deutschen Familien kommt es zu Gewaltanwendung, aber dort ist meistens das Bewusstsein vorhanden, dass das etwas Falsches ist.

Wie lässt sich dieser Zustand abschaffen?

Man muss an diesem Bewusstsein arbeiten, dass auch eine einfache Ohrfeige, Beschimpfungen oder Beleidigungen Kinder schädigen und sie gefährden. Dafür gibt es kein Patentrezept, das geht nur über Aufklärung.

In Ihrem Buch geht es auch um Sexualität. Mädchen dürfen keine vorehelichen sexuellen Erfahrungen haben, während Jungen hier mehr Freiheiten besitzen. Wie lässt sich diese Doppelmoral erklären?

Das hängt stark mit dem Begriff der "Ehre" zusammen. Von einem ehrenhaften Mädchen wird erwartet, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Diese Jungfräulichkeit zu kontrollieren oder zu überwachen, ist Aufgabe der Väter und Söhne. Die Jungen sollen hingegen erfahren in die Ehe gehen, damit sie in der Hochzeitsnacht ihren Mann stehen können. Eine solche Doppelmoral ist aber nicht nur in muslimischen Familien vorhanden, sondern überall dort, wo eine strenge Sexualmoral herrscht, zum Beispiel auch in der katholischen Kirche.

Sie beschreiben Erfahrungen mit jungen, türkeistämmigen oder arabischen Männern, für die "Schwulsein" eine äußerst negative Konnotation hat. Für muslimische junge Männer ist derjenige schwul, der penetriert wird. Selber einen Mann zu penetrieren gilt nicht als homosexuell. Wie kommt es zu solch einer Wahrnehmung?

Da ging es um ein Anti-Gewalt-Training mit jungen Gewalttätern. Diese sind häufig homophob, das ist nichts typisch Muslimisches. Die Wahrnehmung ist, dass derjenige, der den aktiven Part übernimmt, als stark, potent, viril gilt und zeigt, wo es lang geht. Er ist in dieser Denkweise also nicht homosexuell, sondern übt seine Macht aus. Derjenige, der sich penetrieren lässt, ist schwul, schwach, gilt als das Opfer, als Freiwild. Es geht nicht um Gefühle oder Sexualität, sondern einzig und allein um Machtausübung.

Der Anteil der Schüler mit türkischen Wurzeln an Realschulen und vor allem an Gymnasien ist sehr gering. Warum ist das so?

Zur Statistik gehört die nachgewiesene Tatsache, dass Kinder mit ausländischen Wurzeln auch bei gleichen oder sogar besseren Leistungen nach der Grundschule schlechtere Empfehlungen bekommen als die deutschen Kinder. Häufig meinen die Lehrkräfte das sogar gut, weil sie eine geringe Unterstützung des Elternhauses für die Ansprüche eines Gymnasiums unterstellen. Sie denken wirklich, das Kind sei auf der Realschule besser aufgehoben.

Ist das der einzige Grund?

Nein. Häufig kommen die muslimischen Kinder aus bildungsbenachteiligten Milieus, wo die Frühförderung nicht so gut funktioniert wie bei deutschen Bildungsbürgern. Wenn das Kind des deutschen Arztes und das Kind des türkischen Facharbeiters in die erste Klasse kommen, ist das deutsche Kind dem türkischen meist schon anderthalb bis zwei Jahre voraus. Vier Jahre Grundschule können diese Defizite nicht kompensieren.

Wie lautet Ihr Lösungsansatz?

Ganztagsschulen für alle, dann werden alle gleich gefördert. Begleitet von einer individuellen Förderung, denn der deutsche Arztsohn benötigt vielleicht ebenso Unterstützung in manchen Bereichen.

Einer Ihrer Vorschläge lautet, man müsse die Eltern von einer freien, liberalen und individuellen Erziehung überzeugen. Wie soll das gelingen?

Man muss Eltern und Jungen klarmachen, dass freiheitliche Werte und gleichberechtigte Geschlechterrollen keine Bedrohung sind, sondern uns im Gegenteil schützen. Das Problem ist, dass viele damit aber keine Erfahrung haben. Es ist also ein langer Weg. Lehrkräfte müssen auf Augenhöhe mit den Eltern diskutieren und ihnen weitere Optionen aufzeigen. Nicht von oben herab sagen: Was ihr macht, ist falsch. Ich bin überzeugt, dass die Eltern in der Lage sind zu entscheiden, was für sie und ihre Kinder gut ist. Mit Zwang funktioniert es sicher nicht.

Sie fordern außerdem in der Schule Mut zu mehr Konfrontation im Umgang mit den Jugendlichen. Was meinen Sie damit?

Konfrontation heißt übersetzt "Ich interessiere mich für dich". Damit meine ich, dass man das Kind mit seinem Fehlverhalten konfrontiert: Du bist dafür selbst verantwortlich, nicht die bösen Deutschen, nicht die bösen Türken, nicht die böse Lehrerin, sondern nur du allein. Das passiert in der Schule viel zu selten. Man muss gegenüber den Jugendlichen klar und deutlich Regeln formulieren. Und gleichzeitig transparent und nicht willkürlich Konsequenzen aufzeigen, was passiert, wenn nicht auf die Regeln geachtet wird. Das kommt gut bei türkeistämmigen oder arabischen Jugendlichen an, weil das in deren Elternhäusern häufig nicht getan wird. Dort herrscht keine Transparenz, sondern Unklarheit über das, was man darf und was nicht.

Ahmet Toprak, *1970, kam mit zehn Jahren aus einem zentralanatolischen Dorf zu seinen Eltern nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss ging er zurück in die Türkei, machte Abitur und studierte ein Jahr lang Anglistik. 1991 setzte er sein Studium in Deutschland fort und wechselte schließlich zur Pädagogik. Nach dem Diplom 1997 arbeitete er als Anti-Gewalt-Trainer mit mehrfach straffälligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und promovierte parallel. Seit 2007 ist er Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Dortmund. Sein neues Buch "Muslimisch, männlich, desintegriert - Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft" ist im Econ-Verlag erschienen und ab 25. Oktober erhältlich.
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