Die zweite Welle der Corona-Pandemie verdeutlicht gerade, wie kritisch der Mangel von Pflegekräften ist. Eine Recherche von CORRECTIV und weiteren Partnern zeigt: Krankenhäuser versuchen händeringend, Pflegekräfte in Südamerika, auf dem Balkan und Asien anzuwerben. Ein lukratives Geschäft für Vermittler – von denen einige Geschäfte um jeden Preis machen. Ein Preis, den die Pflegekräfte zahlen.

Mehr Panorama-News

Anderthalb Jahre lang schuftet Johanna Salinas für einen Traum, der in Deutschland nach wenigen Wochen scheitern wird. Als Pflegekraft im Ausland will sie sich und ihrer Familie ein neues Leben aufbauen. Die Pflegerin kündigt ihre Arbeit in einem Krankenhaus ihrer Heimatstadt im Süden Kolumbiens. Mit voller Energie verschreibt sie sich stattdessen dem Deutschlernen. Sie nimmt einen Kredit auf, um die Gebühren für die Prüfungen zu bezahlen. Sie stimmt ihre Kinder auf ein neues Leben ein.

Anfang 2020 ist es so weit. Johanna Salinas reist nach Deutschland und beginnt in einer Hamburger Klinik zu arbeiten. Doch der neue Alltag ist anders als erwartet.

"Schon in Kolumbien habe ich gespürt, dass der Vermittler keine Erfahrung hatte. Aber ich beschloss, ihm einen Vertrauensvorschuss zu geben", sagt Johanna Salinas, die eigentlich anders heißt, heute im Gespräch mit CORRECTIV. "Ich musste seine Unerfahrenheit am eigenen Leib erfahren."

Keine Unterstützung vom Krankenhaus

Nach wenigen Tagen in Deutschland verzweifelt die Krankenschwester. Ihr Deutsch, für das sie so hart gearbeitet hat, reicht nicht für die Arbeit. Das macht ihre neuen Kollegen oft wütend. Ihr Visum ist nur kurze Zeit gültig, der Arbeitgeber und der Vermittler lassen sie mit der Bürokratie der Behörden alleine.

"Das Krankenhaus hat mich überhaupt nicht unterstützt", sagt Salinas. Zudem verweigern die Banken ihr ein Konto. Eine Bank sagt, sie als Kolumbianerin könne ja Drogenhändlerin oder Mitglied einer Guerilla sein.

Am Ende fragt sie ihren früheren Chef in Kolumbien, ob sie ihre alte Arbeit wieder haben kann und kauft nach nur einem Monat in Deutschland ein Flugticket zurück in ihre Heimat.

Lesen Sie auch: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wirbt mexikanische Pflegekräfte an

Fragwürdige Vermittler

Die Corona-Pandemie hat noch einmal ein Brennglas auf ein schon zuvor drängendes Problem gelegt: Deutschland hat zu wenig Pflegekräfte. Die Folgen des Personalnotstandes sind alarmierend: Unterbesetzung und ständige Überstunden gefährden nicht nur die Versorgung der Patienten, sondern treiben Pflegekräfte sogar aus dem Beruf.

Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass in Abteilungen mit weniger Personal die Sterberate steigt. In einer aufwändigen Recherche hat CORRECTIV gemeinsam mit Partnern in Kolumbien, Mexiko, Serbien und Spanien sowie mit Lokalzeitungen in Deutschland recherchiert, wie in diesem Pflegenotstand weltweit nach Fachkräften gesucht wird und wie brutal das Vermittlungsgeschäft für die Opfer sein kann.

1,7 Millionen Pflegerinnen und Pfleger arbeiteten 2018 in deutschen Gesundheitseinrichtungen, aber das reicht nicht. Laut einer Schätzung des Bundesinstituts für Berufsbildung werden im Jahr 2035 bundesweit 270.000 Kräfte fehlen. Krankenhäuser suchten schon vor der Pandemie verzweifelt Personal, das sie in Deutschland nicht finden.

Und auch im Ausland ist es schwer genug, überhaupt noch Pflegekräfte anzuwerben. Auf dem Balkan und in Südeuropa gibt es kaum noch verfügbares Personal. Daher suchen die Krankenhäuser in immer ferneren Ländern, in Südamerika und Asien.

Kopfprämie für Pflegerinnen

Bis zu 15.000 Euro zahlen Kliniken als Kopfprämie an Vermittler, die sich weltweit auf die Jagd nach gut ausgebildetem Fachpersonal begeben. Aber das Versprechen von einem neuen Leben ist an fragwürdige Konditionen geknüpft. Zu spüren bekommen die Pflegerinnen und Pfleger das, wenn sie den Arbeitgeber wechseln wollen. Dann müssen sie die Kosten ihrer Anwerbung erstatten – ihre Zeit in Deutschland beginnt also mit einer Schuld, die sie abtragen müssen.

"Das grenzt meiner Meinung nach schon teilweise an modernen Menschenhandel, wie man mit den Nöten und Sorgen der Menschen umgeht und daraus eben Profit schlägt", sagt Isabell Halletz, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Ausländische Pflegekräfte.

Vermittlungsgeschäft nach Deutschland boomt

Die Zahl der Anerkennungsanträge von Abschlüssen aus Nicht-EU-Staaten steigt seit einigen Jahren rasant. Beantragten 2012 noch weniger als 500 ausländische Pflegekräfte eine Zulassung in Deutschland, waren es 2019 schon etwa 12.000. Damit boomt auch das Vermittlungsgeschäft und mehr als hundert Millionen Euro im Jahr. Ein weitgehend unregulierter Markt. Der aktuelle Boom zieht auch unseriöse

Geschäftsleute an, die mit falschen Versprechungen arbeiten.

Bei der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte gibt es ein wiederkehrendes Problem: Die Kosten für den Sprachkurs, die Reise nach Deutschland, das Anerkennungsverfahren und die Vermittlungsgebühren summieren sich pro Pflegekraft auf einen fünfstelligen Betrag.

Krankenhäuser fürchten, dass sich die Ausgaben nicht lohnen, weil die ausländischen Beschäftigten nur einige Monate bleiben und dann zurückreisen oder zu einem anderen Arbeitgeber wechseln könnten. Manche Krankenhäuser wie auch Vermittler bürden dieses Risiko vollständig den Pflegekräften auf: Sie sollen Knebelverträge unterschreiben, damit sie diese Kosten in solchen Fällen selber tragen müssen, sollten sie ihren Arbeitsplatz wechseln.

Knebelverträge, damit sich die Kosten rentieren

CORRECTIV konnte Unterlagen einsehen, die mehrere Fälle belegen. Meistens geht es um etwa 15.000 Euro, die so etwas wie die aktuellen Standardkosten für die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte zu sein scheinen. In einem Fall stellte ein Krankenhaus einer asiatischen Pflegerin, die kündigen wollte, neben den Kosten für Deutschstunden und Reisen sogar den Lohn in Rechnung, den das Krankenhaus während ihrer Einarbeitung ihren Kollegen zahlte – "Praxisanleiterstunden" nannte das Krankenhaus das.

In extremen Fällen verpflichten Krankenhäuser Pflegekräfte, fünf Jahre bei ihnen zu arbeiten, wie CORRECTIV vorliegende Verträge zeigen. Kündigen sie vorher, müssen sie Kosten von ebenfalls etwa 15.000 Euro anteilig zurückzahlen. In einem Vermittler-Vertrag legt eine Klausel fest, dass die Pflegekraft während des Deutschkurses maximal fünfzehn Tage krank sein darf. Sonst verliert der Vertrag, geschlossen mit Pflegekräften, die ihr Leben in ihrer Heimat bereits aufgegeben haben, seine Gültigkeit.

Deutsch lernen in Bosnien und Herzogowina

Auch in einem weiteren von CORRECTIV und seinen Partnern recherchierten Fall hat ein Kleinunternehmer versucht, auf dem boomenden Vermittlungsmarkt schnelles Geld zu verdienen und dabei das ganze Risiko auf die Pflegekräfte abgewälzt. Dieser arbeitet mit einer Klinik in Ostbayern zusammen, die neue Pflegekräfte im Ausland suchte.

Anfang des Jahres begann eine Gruppe mexikanischer Pflegekräfte ihren Dienst in einer Einrichtung des Unternehmens. Doch zuvor mussten sie auf dem Weg in ein neues Leben in Deutschland nach Recherchen von CORRECTIV erst einmal einen kuriosen Umweg einlegen.

Denn der Sprachkurs, den die in Dortmund ansässige Vermittlerfirma arrangierte, fand in Bosnien und Herzegowina statt.

Anstatt also nach dem Unterricht an der Kasse eines deutschen Supermarkts die neu gelernten Wörter direkt anzuwenden, schnappten die Pflegekräfte während ihrer sechs Monate in Banja Luka erst einmal etwas Bosnisch auf. Banja Luka versucht, sich als Ausbildungsstätte für internationale Pflegekräfte mit dem Ziel Deutschland zu etablieren.

Lesen Sie auch: Coronavirus: Deutschland droht der Pflegenotstand

Arbeitsverträge sind oft nicht rechtens

Arbeitsrechtlerinnen halten Verträge von der Vermittlungsfirma mit den Pflegekräften teilweise für nicht rechtens. Etwa wenn sich Pflegekräfte verpflichteten, die Kosten ihrer Anwerbung – 15.000 Euro unter anderem für Vermittlungsgebühr und Kosten der Sprachkurse – den Kliniken anteilig zurückzuzahlen, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren den Arbeitgeber wechseln.

Christiane Brors, Professorin für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Oldenburg ist deutlich in seiner Bewertung der Verträge: "Das ist moderne Schuldknechtschaft. Wie soll ein Arbeitnehmer, der vielleicht etwas mehr als Mindestlohn verdient, solche Summen zurückzahlen?" Die Pflegekräfte, die ihre Heimat aufgegeben haben, wären also erst einmal für fünf Jahre an einen Arbeitgeber gekettet.

Lesen Sie hier die ganze Recherche

Deutschland muss eigenes System überdenken

Es gibt mehrere Gewerkschaften und Parteien, die fordern den Pflegeberuf durch ein erhöhtes Gehalt attraktiver zu machen. Expertinnen sehen eine Lösung darin, die Kosten für die teure Anwerbung ausländischer Pflegekräfte vom Sozialsystem aufzufangen. Dann wären womöglich Pflegekräfte wie die Kolumbianerin Johanna Salinas besser vor Ausbeutung geschützt.

Im aktuellen System hat Deutschland nicht nur Probleme die Fachkräfte im eigenen Land abzusichern. Deutschland nimmt auch anderen Ländern Pflegekräfte weg, die diese mitunter für die Versorgung im eigenen Land benötigen. Denn nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie hat sich der Mangel an Pflegepersonal weltweit verschärft.

Die Recherche "Nurses for Sale" ist vom gemeinnützigen Recherchezentrum CORRECTIV koordiniert. Redaktionen aus fünf Ländern in Europa und Lateinamerika haben die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte durch deutsche Krankenhäuser koordiniert. Alle Ergebnisse finden Sie auf dieser Themenseite. Mehr über das gemeinnützige Recherchezentrum CORRECTIV erfahren Sie unter correctiv.org.
Recherche: Olaya Argüeso, Miriam Lenz, Lisa Pausch, Frederik Richter, Juan Diego Restrepo Text: Olaya Argüeso, Frederik Richter Redaktion: Olaya Argüeso, Frederik Richter, Justus von Daniels, Gabriela Keller Design: Benjamin Schubert Illustrationen: Janosch Kunze Mitarbeit: Michel Penke Social Media: Belén Ríos Falcón, Katharina Späth, Luise Lange, Valentin Zick
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.