Die zweite Welle der Corona-Pandemie trifft Israel hart. Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verschärfen Spannungen zwischen Säkularen und Strengreligiösen. Experten betrachten die Entwicklung des Landes mit Sorge.

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"Dies ist kein Konflikt zwischen den Bürgern und der israelischen Polizei." Zu dieser bemerkenswerten Aussage sieht sich in dieser Woche Israels Präsident Reuven Rivlin gezwungen.

Auseinandersetzungen mit Anti-Regierungs-Demonstranten, Zusammenstöße mit Ultraorthodoxen und tausendfach verhängte Strafen wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln: Der Polizei wird teils ein überhartes Vorgehen vorgeworfen.

Polizei eine Art Prellbock des Ärgers der Israelis

Die Polizei ist aber auch eine Art Prellbock des Ärgers über den zweiten landesweiten Lockdown und seine als überzogen, ungerecht oder antidemokratisch empfundenen Restriktionen.

Ihre zahlreichen Einsätze zeugen zudem von mangelnder Solidarität und sich verstärkenden Brüchen in der israelischen Gesellschaft. Und das zu einer Zeit, in der Israel eine der höchsten Corona-Infektionsraten weltweit aufweist.

Der zweite Lockdown steht von Anbeginn auf tönernen Füßen. Er sei viel härter für die Bevölkerung, "sowohl psychisch als auch wirtschaftlich", sagt Sigal Bar-Tzvi.

Sie ist bei der israelischen Polizei für die Durchsetzung der Corona-Regeln zuständig. "Das Gefühl ist da, dass die Öffentlichkeit müde ist, ermattet, besorgt und manchmal auch gebrochen."

Misstrauen in die Regierung wächst

Zu persönlichen Sorgen und wachsendem Misstrauen in die Regierung gesellt sich immer mehr Argwohn unter einzelnen Gesellschaftsgruppen. Im Fokus stehen vor allem Gegner von Benjamin Netanjahu, die seit Monaten zu Tausenden gegen den wegen Untreueverdachts angeklagten Ministerpräsidenten protestieren, und ultraorthodoxe Juden.

Mit den neuen Restriktionen hat die Regierung ihre Belange und Interessen miteinander gekoppelt. Beide Gruppen fühlen sich benachteiligt - und beobachten genau, welche Zugeständnisse die andere Seite bekommt.

Für Demonstrationen und Gebete gilt wegen einer möglichen Infektionsgefahr derzeit das Gleiche: Sie sind im Freien innerhalb eines Umkreises von einem Kilometer vom Wohnort in Gruppen von maximal 20 Teilnehmern erlaubt. Größere Freiheiten wurden Gläubigen allerdings an Jom Kippur eingeräumt, dem höchsten jüdischen Feiertag.

Viele beteten freiwillig draußen, doch in einer Synagoge in Jerusalem versammelten sich Berichten zufolge Tausende, viele ohne Maske. Und auch in dieser Woche gab es ein Zugeständnis.

In Aschdod wird es Tausenden Ultraorthodoxen gestattet, an der Beerdigung eines Rabbis teilzunehmen. Als Polizisten dann doch eingreifen, um Corona-Regeln durchzusetzen, werden sie von manchen als "Nazis" beschimpft.

Säkulare versus Ultraorthodoxe

Viele Ultraorthodoxe fühlen sich nicht vom Staat Israel vertreten. Sie leben teilweise in einer Art Parallelwelt und folgen eher Vorgaben ihrer Führung als denen des Staates. Strengreligiöse Parteien sind auch an Netanjahus zerstrittener Koalition beteiligt.

Der Aufschrei unter den Regierungsgegnern wegen der Beerdigung ist groß, gelten ihnen die gegen sie gerichteten Beschränkungen doch als Instrument, um ihre Demonstrationen abzuwürgen. Die Erlaubnis sorgt aber auch in der breiten Bevölkerung für Unmut und Unverständnis.

Nach Angaben des Corona-Beauftragten der Regierung, Ronni Gamzu, sollen 40 Prozent der zuletzt positiv getesteten Menschen der ultraorthodoxen Gemeinschaft entstammen. Die Strengreligiösen machen nur etwa zwölf Prozent der rund neun Millionen Einwohner Israels aus.

Säkulare warfen der Polizei bereits zuvor vor, zu nachsichtig mit den Ultraorthodoxen zu sein. Während des Lockdowns gab es immer wieder Berichte über große Feiern von Strenggläubigen, ohne Abstand, ohne Masken.

Die Zeitung "Haaretz" berichtete zuletzt gar von einer Absprache von Polizei und Rabbis in Jerusalem: Großveranstaltungen würden geduldet, solange keine Videos davon auftauchten.

Die Polizei weist dies zurück. In den vergangenen Tagen hat sie mehrfach versucht, gegen Corona-Verstöße in Ultraorthodoxen-Hochburgen durchzugreifen.

Polizisten: "Wir müssen die Pandemie bekämpfen und nicht uns gegenseitig"

Die meisten Rabbis verstünden die Gefahr, die vom Coronavirus ausgehe, sagt die Polizeibeamtin Bar-Tzvi. Es gebe aber auch einige, die sich weigerten, die Lockdown-Bestimmungen einzuhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten.

Sie mahnt: "Wir müssen die Pandemie bekämpfen und nicht uns gegenseitig."

Experten in Israel betrachten die generelle Entwicklung jedoch mit Sorge. In der derzeitigen Situation scheine das nationale öffentliche Interesse marginalisiert, schreibt die Wissenschaftlerin Carmit Padan vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS).

Jeder mache, was in seinen Augen das Richtige sei. Dies führe zu großen Hochzeiten in der arabischen Bevölkerung, Gebeten mit vielen Teilnehmern in der ultraorthodoxen Gemeinschaft sowie Partys und Demonstrationen bei den Säkularen.

Einen kurzfristigen Ausweg zu finden, ist aus ihrer Sicht schwierig. Letztlich müsse eine neue soziale Ordnung gefunden werden - basierend auf einem Gemeinwohl, mit dem sich alle unterschiedlichen Teile der israelischen Gesellschaft identifizieren können. (msc/dpa)

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