Wie reagiert man auf den Mitbewohner, der nie putzt oder die neuen Nachbarn, die Unruhe ins Haus bringen? Der evangelische Kirchenpräsident Volker Jung erklärt, wie man in solchen Situationen am besten reagiert und wo die Grenzen der Toleranz verlaufen.
Das moderne Leben stellt Menschen in ihrem Alltag immer wieder vor die Aufgabe, die Grenzen ihrer Toleranz auszutesten: Sei es der Mitbewohner, der einfach nie den Abwasch erledigt oder die neue Nachbarsfamilie, die Unruhe ins vorher so friedliche Wohnhaus bringt.
Aber nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch innerhalb der Familie gibt es Situationen, in denen Konflikte auftreten, weil Menschen unterschiedliche Ideen vom Zusammenleben haben, die teils nur in mühsamen Gesprächen zusammengebracht werden können.
Tag der Toleranz
Der 16. November ist der Tag, um über diese Situationen und mögliche Lösungen nachzudenken: Seit 23 Jahren findet heute der Tag der Toleranz statt, der von der UNESCO ins Leben gerufen wurde, damit die Menschen sich die Regeln vergegenwärtigen, die ein menschenwürdiges Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen auf diesem Planeten ermöglichen.
Und auch Jahrzehnte nach der Einführung des Tages der Toleranz ist das Thema aktuell: "Heute ist das Thema vielleicht aktueller denn je, weil es bedenkliche Entwicklungen hin zu Intoleranz gibt", sagt der Theologe Volker Jung, der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ist.
Bereits 2013 hatte seine Landeskirche die Aktion "Toleranz im Alltag" ins Leben gerufen, die auf das Thema hinweisen und zu Diskussionen darüber anregen sollte. Kern der Aktion war es, verschiedene Situationen zu skizzieren, in denen Menschen an ihre Grenzen geraten und aufzuzeigen, wie gegenseitige Toleranz zur Problemlösung beitragen kann.
Toleranz im Zusammenleben
"Toleranz heißt, Menschen zu begegnen und wahrzunehmen, dass sie anders sind als man selbst - und das zu akzeptieren", erklärt Jung. "Aber Toleranz erwartet auch von der anderen Seite Toleranz."
In den Alltag übertragen könnte das folgende Situation ergeben: In einer Wohngemeinschaft, in der die Mitbewohner unterschiedliche Vorstellungen von Sauberkeit haben, ist die Lösung nicht, dass im Krisengespräch der vermeintlich unordentlichere Mitbewohner dazu genötigt wird, zum Putzteufel zu werden.
"Dort, wo Menschen aneinandergeraten ist es immer der beste Weg, miteinander zu sprechen, klar zu benennen, was stört und wo es schwerfällt, etwas zu ertragen", sagt Jung.
So können die Mitbewohner ihre Bedürfnisse äußern und den anderen bitten, darauf Rücksicht zu nehmen.
Und vielleicht könnte der unordentlichere Mitbewohner auch auf anderen Wegen zum Zusammenleben beitragen: Etwa durch seine hervorragenden Kochkünste oder indem er für alle den Einkauf erledigt.
Toleranz in der Familie
Aber auch innerhalb der Familie ist der Alltag nicht immer konfliktfrei: Wenn etwa die Kinder im gesamten Haus ihre Sachen herumliegen lassen und die Eltern damit zur Verzweiflung bringen. "Gerade wenn Menschen zusammenleben ist dieser Kontakt und Austausch nötig und dabei ist es wichtig, Dinge angemessen zu Sprache zu bringen und gemeinsam einen Weg zu suchen, wie man gut zusammenleben kann."
Die Familie könnte versuchen, die Situation zu lösen, indem die Kinder die Gemeinschaftsbereiche aufgeräumt halten und dafür in ihren Zimmern das Chaos herrschen lassen dürfen.
Toleranz gegenüber den neuen Nachbarn
Oder die Situation mit der neuen Nachbarsfamilie: Das bisher ausgesprochen ruhige Wohnhaus wird von fremden Stimmen und Gerüchen durchzogen, die Hausordnung ignoriert.
Auch hier sei es wichtig, einen Austausch und das Gespräch zu suchen, so Jung, ohne von oben herab die Einhaltung der Regeln einzufordern.
"Wenn jemand von mir verlangt, dass ich so werden muss wie er, wird es sehr schwierig", sagt Jung. Denn: "Ich muss lernen, eine bleibende Fremdheit auszuhalten. Das ist ganz entscheidend."
Die Grenzen der Toleranz
Doch nicht alles muss akzeptiert werden. Eine Regel gelte immer, sagt Jung. Sie lautet: Keine Toleranz für Intoleranz. "Und Intoleranz ist dort gegeben, wo Menschen mit dem Anspruch auftreten, andere zu dominieren, ihre eigenen Ansichten mit Gewalt durchsetzen wollen. Dort, wo Menschen Andere verachten und das mit ihrer Position oder Stellung begründen, hört Toleranz auf."
In dem Fall der neuen Nachbarsfamilie könnte eine Einladung zu einem gemeinsamen Essen eine Lösung sein: "Das wäre ein wichtiger Schritt, um sich auszutauschen und besser kennenzulernen", sagt Jung. Dabei könnte das Essen als Brücke dienen, wenn die Sprache noch ein Hindernis ist.
Doch Toleranz ist nicht nur eine Privatangelegenheit: "Toleranz ist ein ganz zentraler Begriff für unser gesellschaftliches Zusammenleben", sagt der Theologe. "Das Verfassungsgericht geht von einem Grundgebot der Toleranz im Miteinander der Menschen aus."
Toleranz als permanente Lernaufgabe
Daher seien die Tendenzen zur Intoleranz, die heutzutage häufiger würden nicht akzeptabel. "Wenn wir Menschengruppen pauschal verurteilen und über 'die Ausländer' oder 'den Islam‘' sprechen, hat das nichts mehr mit Toleranz zu tun", warnt Jung.
Genau darum seien Tage wie der 16. November nach wie vor nötig und wertvoll. Sie tragen dazu bei, dass die Gesellschaft sich an die Toleranz als zentralen Wert erinnert und daran arbeitet, ihn im Alltag anzuwenden. "Es ist eine permanente Lernaufgabe, sich über solche grundlegenden Fragen Gedanken zu machen, und sie sich bewusst zu machen", sagt Jung.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
- Aktion: "Toleranz im Alltag"
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