In einem Telegram-Beitrag heißt es, in der Türkei stünden "zehntausende Migranten vor Europas Toren". Zeigen soll das ein Video einer arabischen Nachrichtenseite. In dem Video geht es zwar um syrische Geflüchtete aus der Türkei, doch die Aufnahmen darin sind teilweise veraltet. Ein Faktencheck.

Der Telegram-Kanal von Martin Sellner, dem Sprecher der rechtsextremen Identitären Bewegung, verbreitete am 13. September ein arabischsprachiges Video. Darin sind unter anderem große Menschengruppen zu sehen, die über Feldwege laufen. Das Video soll laut dem Beitragstext dazu belegen, dass "zehntausende" syrische Flüchtlinge, die in der Türkei leben, "vor Europas Toren" stünden. Ähnliche Behauptungen verbreiteten sich zuvor auch in französischer und türkischer Sprache.

Mehr Panorama-News

Das Video, das in den Beiträgen verbreitet wird, zeigt teilweise Szenen aus den Jahren 2015 und 2020. Es stimmt zwar, dass in einer Telegram-Gruppe syrische Flüchtlinge dazu aufgerufen wurden, die Türkei in Richtung EU in einem "Konvoi" zu verlassen. Das scheiterte laut den Organisatoren jedoch.

Video auf Telegram enthält altes Videomaterial aus den Jahren 2015 und 2020

Der Text-Beitrag auf Telegram ist deutschsprachig, das Video dazu ist aber arabischsprachig. Zu Beginn des Videos läuft eine große Menschengruppe über ein Feld. Ab Minute 1:34 sind Menschen zu sehen, die Gegenstände in Richtung einer Absperrung werfen. Außerdem gibt es Aufnahmen einer arabischsprachigen Telegram-Gruppe namens "Migration nach Europa, Konvoi des Lichts".

Wie in der oberen linken Ecke des Videos auf Telegram zu erkennen ist, stammt es von einem Sender namens Orient. Wir haben daher zunächst nach den Schlagworten "Orient News" und "Orient TV" gesucht. So stießen wir auf den Youtube-Kanal des Mediums Orient TV, das das Video produzierte. Dort fanden wir das Originalvideo, es wurde am 9. September veröffentlicht und bisher rund 475.000 Mal angesehen.

Laut Google-Übersetzung lautet der Titel des Videos: "Über 40.000 Menschen. Der Konvoi des Lichts mobilisiert Syrer in der Türkei, um unter 'Warnungen' nach Deutschland zu gelangen." Ein arabischer Muttersprachler hat das Video für uns zusammengefasst: Orient TV berichtet über eine Telegram-Gruppe, in der ein "Konvoi des Lichts" für syrische Flüchtlinge geplant und angekündigt wurde. Die Aktion sollte zehntausende Menschen zusammenbringen, um gemeinsam die türkische EU-Grenze zu überqueren.

Wir haben bei zwei der Aufnahmen von Flüchtlingen im Video überprüft, ob sie aktuell sind. Dabei fanden wir heraus, dass es sich offenbar um Archivbilder handelt, die nicht die aktuelle Situation an der EU-Türkei-Grenze zeigen. Dass solche Bilder in Medienberichten eingesetzt werden, ist üblich. Sie sollten allerdings als solche gekennzeichnet werden, um nicht in die Irre zu führen – in dem Bericht von Orient TV ist das nicht geschehen.

Menschengruppe auf Feldern: Aufnahme wurde bereits 2015 vom britischen "Guardian" verwendet und zeigt slowenisch-kroatische Grenze

Wir haben per Bilderrückwärtssuche zunächst nach der ersten Szene aus dem Video gesucht: Darin zu sehen ist eine große Menschengruppe, die über ein Feld läuft. Die Szene wurde laut unserer Recherche vom britischen "Guardian" bereits im Jahr 2015 ausgestrahlt. Sie stammt von der slowenisch-kroatischen Grenze.

Der folgende Screenshot zeigt den Bericht von Orient TV und der darunter zeigt das Video des "Guardian":

Menschen werfen Gegenstände über einen Zaun und werden mit Wasserwerfer besprüht: Türkisch-griechische Grenze im Juli 2020

Eine weitere Szene aus dem Video von Orient TV ist nicht aktuell: Darin ist zu sehen, wie Menschen Gegenstände über einen Zaun werfen. Anschließend werden sie mit einem Wasserwerfer beschossen. Diese Aufnahmen stammen von der türkisch-griechischen Grenze aus dem Jahr 2020. Veröffentlicht wurden sie zum Beispiel am 3. Juli 2020 von der Website Euronews. Laut der Website kam es damals an der Grenze zu Auseinandersetzungen zwischen griechischen Einsatzkräften und Geflüchteten, die über Griechenland in die EU einreisen wollten.

Der folgende Screenshot zeigt den Bericht von Orient TV und der darunter zeigt das Video von Euronews:

Zu demselben Ergebnis kamen auch die türkischen Faktenchecker von Teyit und "Les Observateurs" von France 24.

Syrische Geflüchtete in der Türkei wollten über Aktion namens "Konvoi des Lichts" in die EU flüchten

Die Szenen im Video zeigen also zumindest teilweise keine aktuellen Fluchtbewegungen. Wie aus dem Beitrag von Orient TV aber hervorgeht, gab es im September 2022 Berichte über einen sogenannten "Konvoi des Lichts". Am 10. September berichtete beispielsweise das österreichische Newsportal OE24 darüber.

Wie der britische "Guardian" am 21. September berichtete, versammelten unbekannte Organisatoren offenbar 85.000 Menschen in einer Telegram-Gruppe, um gemeinsam in die EU zu gelangen. Syrer, die der Gruppe beitraten, berichten laut "Guardian", dass sie in der Türkei Rassismus ausgesetzt seien und die Abschiebung nach Syrien fürchteten. Am 8. September berichtete der "Spiegel", Geflüchtete würden teils mit vorgehaltener Maschinenpistole zur Rückreise gezwungen.

Die Telegram-Gruppe gibt es. Am 30. September hatte sie rund 76.000 Mitglieder; kurz darauf wurden sämtliche Inhalte in der Gruppe gelöscht. Es lässt sich nicht nachvollziehen, wer die Organisatoren waren und wie viele der Mitglieder sich aktiv beteiligten.

Auf Twitter veröffentlichte die Organisation am 15. September eine Erklärung, in der es heißt, man wolle die Türkei verlassen, um dem dortigen Rassismus zu entgehen, der einige Syrerinnen und Syrer ihr Leben gekostet habe. Zudem gebe es Druck auf die Geflüchteten, nach Syrien zurückzukehren. Dort seien ihre Leben jedoch in Gefahr.

"Konvoi des Lichts" wurde offenbar angegriffen und beendete Aktion

Der "Guardian" berichtete am 21. September, die Gruppe habe sich auf den Weg in Richtung der türkisch-griechischen Grenzstadt Edirne gemacht, dort seien Mitglieder aber von unbekannten Zivilisten angegriffen worden. Daraufhin sei die Aktion vorläufig abgebrochen worden, wie die Website Infomigrants berichtete. Am 30. September wurden Kommentare zu der vergangenen Aktion in der Telegram-Gruppe gelöscht.

Es ist unklar, wie viele Menschen in Edirne versammelt waren. Die Organisatoren schrieben auf Telegram, der "Konvoi des Lichts" werde vorübergehend ausgesetzt, nachdem man entdeckt habe, dass er von Menschenhändlern und Schleppern unterwandert worden sei. "Gott sei Dank haben wir diesen Fall entdeckt, bevor es zu spät war", hieß es in der Telegram-Gruppe.

Wir fanden außerdem ein weiteres Video von Orient TV, das offenbar einen weiteren Versuch einiger Gruppen-Mitglieder am 26. September zeigt. In diesem Video sind aber nur wenige Menschen zu sehen. Einer der Männer im Video beschuldigt die Organisatoren des "Konvoi des Lichts", sie betrogen zu haben. Auch in der Telegram-Gruppe mehrte sich vor der Löschung Kritik an den unbekannten Organisatoren.

Fazit: Das Video über den "Konvoi des Lichts" enthält teils veraltete Aufnahmen von anderen Fluchtbewegungen aus den Jahren 2015 und 2020. Weitere Aufnahmen scheinen aktuell und zeigen Beiträge in der Telegram-Gruppe der Aktion. Unklar ist jedoch, inwiefern die Geflüchteten, die sich daran beteiligten, weiter Teil der Aktion sind oder ob diese mittlerweile beendet wurde.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

CORRECTIV ist ein gemeinnütziges, unabhängiges und vielfach ausgezeichnetes Recherchezentrum. Die investigativen Journalisten recherchieren langfristig zu Missständen in der Gesellschaft, wie dem CumEx-Steuerraub oder illegaler Parteifinanzierung.
Eine eigene Faktencheck-Redaktion - CORRECTIV.Faktencheck - überprüft irreführende Behauptungen und Gerüchte in den sozialen Medien. Die Faktenchecker erklären, wie Falschmeldungen unsere Wahrnehmung beeinflussen und wie Sie sich vor gezielten Falschmeldungen schützen können.
Alle zwei Wochen erhalten Sie die neuesten Faktenchecks zu Gerüchten im Netz direkt in Ihr Postfach: Abonnieren Sie hier den CORRECTIV Newsletter.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.