Der wegen Mordes angeklagte Paralympics-Star Oscar Pistorius muss sich vor einer Urteilsverkündung medizinisch untersuchen lassen. Ein Gutachten soll Aufschluss über Pistorius' geistige Verfassung geben – und könnte damit alle bisherigen Ergebnisse in Frage stellen.
Oscar Pistorius ist Sprinter, aber der Prozess um den mysteriösen Tod seiner Freundin, Reeva Steenkamp, entwickelt sich immer mehr zu einem Marathon. Nachdem die Verteidigung
Das Gutachten
Der Leichtathlet soll unter einer psychischen Angststörung leiden, sagt Dr. Merryll Vorster. Diese könnte sich auf Pistorius' Verhalten in der Tatnacht vom 14. Februar 2013 ausgewirkt haben. Mit der Zeugenaussage der Psychiaterin, die Pistorius Anfang Mai zweimal getroffen hatte, wollte die Verteidigung ihren Mandanten eigentlich entlasten. Richterin Masipa befand jedoch, das Gericht könne Merrylls Aussage selbst nicht angemessen beurteilen: "Es wäre unklug, sich auf so eine Diagnose ohne Hilfe relevanter Experten zu verlassen." Ein amtliches Gutachten auf Basis einer längerfristigen Beobachtung soll nun über Pistorius' Schuldfähigkeit Aufschluss geben.
Immer noch offene Fragen
Obwohl seit März prozessiert wird, gibt es noch keine eindeutigen Ergebnisse. Anklage und Verteidigung arbeiten sich weiter an ungeklärten Fragen ab.
- Haben sich Pistorius und Steenkamp vor ihrem Tod gestritten? Pistorius verneint. Staatsanwalt Gerrie Nel argumentiert, dass der Profisportler ausgerastet sei. Immerhin gilt Pistorius nach eigener Angabe als eifersüchtig und waffenbegeistert.
- Hat Pistorius seine Beinprothesen getragen, also vorsätzlich gehandelt, als er die Schüsse auf Steenkamp abgegeben hat? Nein, behauptet der Ballistiker Thomas Wolmarans und untermauert damit die Darstellung des Angeklagten. Demnach hat Pistorius in seiner Panik vor einem Einbrecher keine Zeit verloren, um Prothesen anzulegen.
- War das Licht in der Toilette an? Ein Nachbar bejaht, Pistorius sagt, es sei dunkel gewesen, als er geschossen hat. Deshalb sei er von einem Einbrecher ausgegangen.
- Haben Nachbarn Steenkamps Schreie gehört? Ein Nachbar behauptet, Schreie und dann Schüsse gehört zu haben. Ein anderer sagt, er habe zunächst eine Frau um Hilfe rufen hören, später einen Mann. Es habe sich nicht wie ein Streit angehört, sondern wie ein Überfall. Die Schreie der Frau klangen "äußerst verängstigt". Verteidiger Barry Roux argumentiert, dass nur Pistorius' Schreie zu hören gewesen seien.
- Und schließlich: Warum war Steenkamp angezogen und hat sich mitten in der Nacht mit ihrem Handy in der Toilette eingeschlossen?
Mutmaßlicher Tathergang
Ob sich jemals eindeutig klären lässt, was genau in jener Februar-Nacht in Pistorius' Haus geschah, ist ungewiss. Fakt ist: Pistorius schoss vier Mal auf die Toilettentür neben seinem Schlafzimmer. Drei Kugeln verletzten seine Freundin, die letzte tödlich. Versehentlich, lautet die Version 27-Jährigen. Vorsätzlich, hingegen die der Anklage.
Pistorius will in der Nacht zum Valentinstag gegen drei Uhr nachts aufgewacht sein, weil es zu heiß war. Vom Schlafzimmer-Balkon wollte er den Ventilator holen, als er Geräusche aus der Toilette wahrnimmt. Daraufhin holt er im stockdunklen Schlafzimmer sofort seine Waffe unter dem Bett hervor, kriecht Richtung Toilette und fordert Steenkamp auf, die Polizei zu rufen. Erst nachdem er mehrere Schüsse auf die Tür abgefeuert hat und zurück kriecht, bemerkt er, dass Steenkamp nicht darin liegt.
Staatsanwalt Gerrie Nel glaubt an einen Streit. Steenkamp flüchtet – angezogen – vor Pistorius auf die Toilette, schließt die Tür ab. Das Licht ist an. Sie steht hinter der Tür, redet auf Pistorius ein. Währenddessen schießt dieser – auf seinen Stümpfen stehend – viermal auf die Tür. Steenkamp schreit noch in Panik, weil der erste Schuss nur ihre Hüfte getroffen, der zweite sie sogar verfehlt hat. Nummer drei trifft sie in den Arm. Erst Schuss Nummer vier verletzt sie in Hand und Kopf tödlich.
Wie es weiter geht
Am Dienstag ist der 33. Prozesstag angesetzt. Dann will das Gericht entscheiden, ob Pistorius einen Monat lang stationär oder ambulant untersucht werden soll. Er selbst nannte eine mögliche Einweisung einen "Witz". Richterin Masipa sagte dagegen, eine eindeutige Beurteilung des Geisteszustands des Angeklagten sei wichtig, weil Pistorius wegen seiner etwaigen psychischen Störung argumentieren könnte, er sei strafrechtlich nicht verantwortlich für seine Tat. Momentan plädiert Pistorius auf "nicht schuldig". Sollte er als zurechnungsfähig anerkannt und wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt werden, drohen ihm 25 Jahre Gefängnis, ohne Möglichkeit auf eine vorzeitige Entlassung.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.