Die Lage in Afghanistan spitzt sich weiter zu: Es gibt so viele Anschläge wie seit Jahren nicht mehr, Beobachter fürchten, dem Land drohe erneut Bürgerkrieg. Ein Experte sagt: Die Regierung versagt, doch die Menschen fürchten vor allem die Rückkehr der Taliban.

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Mehr als 30 Tote bei einem Selbstmordattentat in der Provinz Nangahar am vergangenen Dienstag, am Tag darauf 20 Tote beim Doppelanschlag auf einen Sportclub in der Hauptstadt Kabul. Zusätzlich, so verlautet aus Militärkreisen, kämen derzeit täglich 30 bis 35 Soldaten und Polizisten in Gefechten ums Leben.

Damit hat sich eine Tendenz verschärft, die Kritiker schon länger beobachtet haben: Die Regierung der Nationalen Einheit unter Präsident Ashraf Ghani, seit 2014 im Amt, kann ihre Macht nicht festigen.

Schon 2015 hatte der Wissenschaftler Philipp Münch vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit festgestellt, die Regierung tue sich schwer, Normen und Gesetze nicht nur zu erlassen, sondern sie auch in der Bevölkerung zu verankern.

Ein Jahr dauerte es damals, bis sich die Parteien auf ein Bündnis geeinigt hatten. Ein Jahr, in dem sich, außerhalb des Einflusses der Regierung, neue Milizen bildeten, neue militärische Bündnisse geschmiedet wurden, auf regionaler und lokaler Ebene neue Koalitionen in Machtstellungen gelangten.

Der Regierung entgleitet die Kontrolle immer weiter

Das Problem habe sich seither deutlich verschlimmert, konstatiert Dr. Jan Koehler, Afghanistan-Forscher an der Freien Universität Berlin. Er zählt vier Bereiche auf, in denen die Zustände derzeit "besonders besorgniserregend" seien:

  • Der Regierung entgleitet die territoriale Kontrolle über das Land immer weiter.
  • Der Einfluss der Taliban nimmt wieder deutlich zu.
  • Die Gewalt, zum Beispiel durch Milizen, nimmt zu.
  • Die "Perspektiven und Vorstellungen der Menschen" sind wieder ins Negative gerutscht: Sie hoffen nicht mehr auf eine bessere Zukunft, befürchten vielmehr weitere Verschlechterungen.

Im Gegensatz zu den Kämpfern des so genannten Islamischen Staates (IS), der in Afghanistan nach wie vor keine tragende Rolle spielt, haben sich Macht, Einfluss und Kampfkraft der Taliban erhöht.

Und deren Befehlshaber passen sich den neuen Verhältnissen an: "Sie sind klüger geworden", konstatiert Jan Koehler. War die streng islamisch orientierte Kampftruppe zu früheren Zeiten auch und vor allem eine von Paschtunen dominierte Organisation, so hat sie sich mittlerweile geöffnet: "Sie haben sich diversifiziert und auch andere ethnische Gruppen in die Kommandostruktur integriert."

Auch von dem Konzept, nur "Fußsoldaten" für den Kampf zu rekrutieren, sind die Taliban abgekommen. Stattdessen stellen sie nun auch Personal für höhere Positionen ein und verbreitern so ihre Basis in weiteren Schichten der Bevölkerung.

Eine "besorgniserregend gut ausgerüstete, lernfähige Aufstandsbewegung", so Koehler, stehe nun der Regierung gegenüber, die sich in vielerlei Hinsicht selbst blockiere.

Sie sei wegen der weiterhin verbreiteten Korruption nur eingeschränkt handlungsfähig, ebenso wegen anhaltender innerer Streitereien.

Das Ergebnis: "Der Staat hat sich teilweise aus den Distrikten zurückgezogen und überlässt dort das Terrain örtlichen Milizen – die dann so miserabel herrschen, dass sich die Bevölkerung den Taliban öffnet."

Auch der Norden ist nicht mehr sicher

Eine der Folgen dieser Entwicklung: Der ehemals stabilere Norden Afghanistans kann nicht mehr als sicher gelten. Das Land sei mittlerweile ein "Flickenteppich" aus ruhigeren und stark gefährdeten Regionen, die teils eng beieinander liegen.

Es gebe dort nach wie vor "Normalität und Alltag" – doch die Bevölkerung brauche spezielle Überlebenstechniken: "Man muss als Afghane wissen, wie man sich wohin begeben kann, wie man auf Druck der Taliban reagiert, was man macht, wenn die Vertreter einer Miliz Geldforderungen stellen und vieles mehr."

Wenn der Staat sich zurückzieht, sorgen eher die Taliban für "Ruhe und Ordnung" als die sich bekämpfenden Milizen. Sie orientieren sich mehr als früher an den Bedürfnissen der Bevölkerung, halten in manchen Distrikten den Schulunterricht aufrecht – "mitunter sind sogar weibliche Lehrkräfte erlaubt. Die Aufständischen lassen staatliche Bezahlung zu – und sorgen sogar für Bestrafung, wenn sie nicht zum Unterricht erscheinen."

Ein afghanischer Bauer sagte den Wissenschaftlern aus Berlin, er hätte gerne die Demokratie der Regierung - aber trotzdem "die Sicherheit der Taliban".

Trotz solcher Aussagen zeigt Koehlers Forschung, dass die Taliban bei der Bevölkerung wenig ideologischen Rückhalt haben: "Die Afghanen wollen lieber einen funktionierenden Staat als ein Regime der Taliban, das trotz mancher Zugeständnisse immer auf Unterdrückung beruht." Das Problem sei, "dass der Staat nicht liefert und die Taliban, verglichen mit dem Chaos der Milizen, die besser Alternative sind".

Ein Problem ist die schwankende Sicherheitslage am Hindukusch auch für die deutsche Bundesregierung. Noch am Mittwochmorgen vergangener Woche waren 20 afghanische Flüchtlinge nach Kabul geflogen worden. Ob man "guten Gewissens" afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland abschieben könne? Jan Koehler findet diese Frage "sehr, sehr kompliziert".

Der Blick in die Zukunft sei für die Afghanen schwierig geworden – viele Familie fragten: Was machen wir mit unseren Söhnen? Einen Verwandten auf die Flucht zu schicken, sei für manche zu einer wohlüberlegten Investition geworden.

Dass ein Teil nicht vor konkreter, unmittelbarer Gewalt flieht, weiß Koehler aus einer Befragung von 350 afghanischen Familien. Wichtig sei in jedem Fall eine intensive Einzelfallprüfung für alle Flüchtlinge.

Ganz so pessimistisch wie andere Beobachter ist der Berliner Wissenschaftler nicht: Zwar habe sich die Lage in den letzten zwei Jahren für die Bevölkerung deutlich verschlechtert, aber man müsse "derzeit nicht mit einem vollständigen Zusammenbruch des Staates rechnen". Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Afghanistan lässt sich aus einem solchen Satz allerdings nur schwer herauslesen.

Verwendete Quellen:


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