Von Waffenruhe geschweige denn Frieden kann in der Ostukraine keine Rede sein: Nachdem prorussische Separatisten nach schweren Gefechten die Krisenstadt Debalzewo eingenommen haben, scheint der Minsker Friedensplan bereits nach wenigen Tagen gescheitert zu sein. Was, wenn die Waffenruhe vollends bricht? Wir beantworten die aktuell drängendsten Fragen zur Ukraine-Krise.
Kurzzeitig sah es so aus, als würde Frieden einkehren im umkämpften Osten der Ukraine. Bei den zähen Verhandlungen in Minsk vergangene Woche hatten sich alle Beteiligten auf eine Waffenruhe geeinigt, die in der Nacht zum Sonntag in Kraft trat. Doch nur zwei Tage später ist der Frieden erneut massiv gefährdet: Denn von Waffenruhe kann keine Rede sein. Prorussische Separatisten sind nach schweren Gefechten mit der ukrainischen Armee in die Stadt Debalzewo einmarschiert, das Minsker Abkommen steht damit auf der Kippe.
Doch wer ist dafür verantwortlich und was droht bei einem Scheitern des Minsker Abkommens? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu den jüngsten Ereignissen.
Wie ist die Situation im Krisengebiet der Ostukraine?
Kiew und die Separatisten beschuldigen sich seit Sonntag gegenseitig, das gemeinsame Abkommen zu brechen. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin beklagte, es habe innerhalb von 24 Stunden insgesamt 112 Angriffe mit Artillerie und Raketen gegeben. Dabei seien mindestens fünf Soldaten getötet worden. Auf der anderen Seite warf Separatistenführer Eduard Bassurin der ukrainischen Armee vor, den Flughafen von Donezk zu beschießen. Zudem beteiligten sich an den Kämpfen auch Freiwilligen-Bataillone und lokale Milizen, die sich nicht an zentrale Forderungen gebunden sehen. Am Dienstag marschierten die Separatisten in die Krisenstadt Debalzewo ein und verkündeten, "bis zu 80 Prozent" eingenommen zu haben. Dabei seien mehr als 300 Soldaten gefangen genommen worden, es gebe "viele Tote".
Welche strategische Bedeutung kommt der umkämpften Stadt Debalzewo zu?
"Debalzewo ist ein Eisenbahnknotenpunkt etwa in der Mitte zwischen Donezk und Luhansk und damit ein strategisch wichtiger Ort", erklärt Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Schon in den Minsker Verhandlungen wurde lange um die 25.000-Einwohner-Stadt gerungen, die inzwischen größtenteils evakuiert ist. Seit Wochen sollen dort 6.000 bis 8.000 ukrainische Soldaten eingekesselt sein, Kiew bestreitet diese Sichtweise jedoch.
Separatistenfunktionär Denis Puschilin hatte der Agentur Reuters vor der Einnahme der Stadt gesagt, seine Streitkräfte würden dort lediglich auf den Beschuss durch ukrainische Soldaten reagieren. Der Kampf um Debalzewo sei "eine moralische Sache".
Beobachter hatten schon vor Beginn der Waffenruhe erwartet, dass die Stadt eine entscheidende Rolle für den Erfolg des Friedensplans spielen würde. Denn hier verlaufen die Konfliktlinien besonders undeutlich. Beide Seiten misstrauen einander und fürchten, mit jedem Schritt den eigenen Vorteil aufzugeben.
Was sähe der Minsker Friedensplan bei intakter Waffenruhe als nächstes vor?
Eigentlich hätte die Ukraine an diesem Dienstag beginnen sollen, ihre schweren Waffen aus den umkämpften Gebieten abzuziehen. Doch bereits am Montagmittag verkündete ein Sprecher der ukrainischen Armee, der Abzug könne erst beginnen, wenn nicht mehr gekämpft werde. Die Separatisten wiederum wollen sich erst zurückziehen, wenn Kiew mit seinem Abzug beginnt. Diese Haltung betonte auch Separatistenfunktionär Puschilin: "Wir sind jederzeit bereit. Aber wir werden nichts einseitig machen - damit würden unsere Soldaten zum Ziel werden."
Als Beobachter würde bei einem möglichen Abzug die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fungieren. Experten sehen in ihr eine Schlüsselrolle für den Frieden: Die Organisation könnte Informationen zwischen den Konfliktparteien austauschen und damit glaubhaft bestätigen, dass sich die Truppen mit schweren Waffen zurückziehen. Auf diese Weise würde das gegenseitige Vertrauen langsam wachsen und allmählich die vereinbarte Pufferzone aufgebaut.
Warum sind die Situation so kompliziert? Wurde im Minsker Abkommen nicht ein genauer Plan festgelegt?
Das Problem des Friedensprozesses: Alle Stufen bauen aufeinander auf. Nur wenn die Waffenruhe hält, werden beide Seiten ihre schweren Geschütze abziehen, und nur dann können irgendwann Überwachung, Wahlen und Kontrollen der Grenzen folgen. Bricht aber eine der Stufen, gefährdet das alle anderen. Dieser Prozess ist gerade am Anfang besonders anfällig, wo es überall an Vertrauen fehlt.
Zudem konnten die Vertragspartner in Minsk einige Punkte nur anschneiden, um sich überhaupt diplomatisch zu einigen. Damit ist etwa "der Status der umkämpften Gebiete nach wie vor strittig", erklärt Osteuropa-Forscher Halbach.
Was passiert, wenn die Waffenruhe vollends bricht?
Im schlimmsten Fall wäre das zweite Minsker Abkommen gescheitert - wie schon sein Vorläufer vom September 2014. Rund 17 Stunden Gespräche und tagelange Vorverhandlungen wären dann umsonst gewesen. Die Kämpfe könnten wieder aufflammen, das Leid der Menschen in der Ost-Ukraine von vorne beginnen. Fatal auch das politische Signal: Nach zwei Fehlschlägen würde der Spielraum für neue diplomatische Ansätze noch geringer.
Wie könnten in diesem Fall die nächsten Schritte des Westens aussehen?
"Die Option zu neuen EU-Sanktionen ist da", sagt Halbach. Erst dieser Tage hat die Europäische Union (EU) ihre Strafmaßnahmen ausgeweitet und 19 Personen mit Einreiseverboten und Kontensperrungen belegt. In Washington hingegen dürfte auch die Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine wieder entflammen. Während vor allem in den USA die Zahl der Befürworter wächst, fürchten viele Experten eine gefährliche Rüstungsspirale wie zu Zeiten des Kalten Krieges: Liefert Amerika, liefert Russland einfach mehr - was den Konflikt am Ende nur noch weiter anstachelt.
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