Eine Berliner Seniorin soll nach 45 Jahren aus ihrer Wohnung, weil ihr Vermieter selbst mehr Platz für seine junge Familie braucht. Wer braucht nötiger die Wohnung? Und wie sollen Gerichte mit der wachsenden Zahl von Härtefällen umgehen? Der BGH entscheidet.
Bei Eigenbedarf hat der Mieter normalerweise schlechte Karten. Es sei denn, er beruft sich auf einen Härtefall. Bei wenigen bezahlbaren Wohnungen und vielen älteren Mietern geschieht das oft - und macht der Justiz zunehmend zu schaffen. Das darf nicht zum Problem der Mieter und Vermieter werden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) nahm an diesem Mittwoch zwei Eigenbedarfskündigungen zum Anlass, allzu schematischen Prüfungen der Gerichte einen Riegel vorzuschieben. Denn manchmal sind beide Seiten in Not. Das Urteil der Richter und welche Konsequenzen das für Mieter und Eigentümer hat, erfahren Sie hier.
Wie definiert das Gesetz den Härtefall?
Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 573) kann ein Vermieter einem Mieter kündigen, wenn er Eigenbedarf für sich, seine Familie oder Angehörige seines Haushalts geltend macht.
Der Mieter kann sich dagegen unter Verweis auf Paragraf 574 wehren, wenn es für ihn und seine Angehörigen eine Härte bedeuten würde, "die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist". Die liegt auch vor, wenn eine angemessene Ersatzwohnung nicht zu zumutbaren Bedingungen beschafft werden kann.
Worum geht es vor dem BGH?
Im ersten Verfahren hat ein Familienvater einer 80-jährigen Mieterin gekündigt, die seit 45 Jahren in einer Berliner Wohnung lebt und der Demenz attestiert wurde. Sie will nicht raus. Doch der Eigentümer braucht selbst eine größere Bleibe. Er will mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern aus der Zweizimmerwohnung in die vor kurzem gekaufte 73 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung der Seniorin ziehen.
In einem weiteren Fall wehren sich zwei Mieter einer Doppelhaushälfte in der 9000-Einwohner-Gemeinde Kabelsketal bei Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt gegen den Rausschmiss. Die Eigentümerin will mit ihrem Freund einziehen - ursprünglich, um der pflegebedürftigen Großmutter näher zu sein.
Wie haben die Vorinstanzen entschieden?
In beiden Verfahren wurde der Eigenbedarf des Vermieters bestätigt. Bei der Berliner Seniorin entschied das Landgericht aber, dass die alte Dame, die dort mit zwei über 50 Jahre alten Söhnen lebt, nicht ausziehen muss - weil sie schon so lange dort wohnt und sich wegen ihrer Demenz woanders vielleicht nicht mehr zurechtfinden würde. Außerdem sei bezahlbarer Ersatz in Berlin rar. Dagegen legte der Familienvater Revision vor dem BGH ein (VIII ZR 180/18).
Im Sachsen-Anhalt-Fall war die Vorinstanz dagegen der Ansicht, ein Umzug sei den Mietern zuzumuten. Dagegen zogen diese vor den BGH (VIII ZR 167/17). Die Mieter, die seit 2006 mit zwei Verwandten in dem Haus wohnen, sehen den Eigenbedarf vorgeschoben - zumal die Oma der Vermieterin inzwischen tot ist. Sie halten einen Auszug aufgrund schwerer Erkrankungen - darunter Parkinson, Depression und Alkoholkrankheit - für nicht zumutbar.
Was moniert der BGH?
Die höchsten Zivilrichter sehen die Tendenz, dass viele Fälle von Gerichten schematisch und "nicht in gebotener Tiefe" gelöst werden - die beiden Urteile werden so wohl aufgehoben. Sie vermissen eine gründliche Prüfung im Einzelfall. So habe es bei der Seniorin keine Feststellungen dazu gegeben, welche Verschlechterung ihr bei einem Umzug drohen könnte. In Kabelsketal seien hingegen vom Landgericht Halle gesundheitliche Beeinträchtigungen der Mieter möglicherweise bagatellisiert und verkannt worden.
Was gibt im Härtefall den Ausschlag?
Nach Ansicht des Deutschen Mieterbundes (DMB) müssten Kriterien wie hohes Alter und Krankheit grundsätzlich schwerer wiegen als Interessen der Vermieter. Doch Alter allein genügt nicht: Es gibt 80-jährige Marathonläufer - und Menschen, denen es schon mit Anfang 60 schlecht geht, so die Vorsitzende BGH-Richterin Karin Milger. Entscheidend ist, welche Folgen ein Umzug für den Mieter hätte. Auch die Lebensplanung des Vermieters darf nicht ignoriert werden. Im Zweifel soll ein Gutachten helfen.
Warum blicken Mieter wie Vermieter gespannt nach Karlsruhe?
Eigenbedarf ist laut Mieterbund der häufigste Kündigungsgrund. DMB-Geschäftsführer Ulrich Ropertz geht von jährlich 80.000 Eigenbedarfskündigungen aus und kritisiert: "Die Gerichte haben in den letzten Jahren die Eigenbedarfskriterien stark aufgeweicht." Der Präsident von Haus & Grund Deutschland, Kai H. Warnecke, warnt dagegen vor "einseitiger Stimmungsmache" und empfiehlt Käufern, sich darauf einzustellen: Eigenbedarf ist nicht immer leicht umzusetzen. © dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.