• Die aktuelle Dauerkrise mit immer wieder neuen Sorgen bedroht viele existenziell und ist herausfordernd für uns alle.
  • Gerade reparieren wir die Corona-Schäden in unseren Seelen und holen Versäumtes nach, beschreibt der Psychologe und Familientherapeut Gerhard Vogel.
  • Mit Sorge blickt er auf mögliche weitere Schulschließungen und hat für den Sommer einen wichtigen Rat.
Ein Interview

Wieder einmal zeigen erschreckende Zahlen, wie sehr die Coronakrise Familien erschüttert hat: 42 Prozent mehr Jugendliche mussten im vergangenen Jahr wegen emotionaler Störungen (etwa Depression oder Angst) in Kliniken eingewiesen werden als noch im Jahr zuvor, zeigen Zahlen der Krankenkasse DAK. Wohlgemerkt: Das war noch 2021. Alle ächzten bereits unter der Pandemie, die Hoffnung auf eine Verschnaufpause nach dem Corona-Winter war groß.

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Dann folgten: ein Krieg in Europa, Teuerungen, weiter unerwartet hohe Inzidenzen. Das Virus traf nun immer mehr Familien. Gerhard Vogel bekommt als Leiter der Erziehungs- und Familienberatungen der Caritas in Düsseldorf die ganze Bandbreite der Sorgen mit und meint: In den Talkshows sitzen nicht die, auf die wir jetzt besonders blicken sollten.

Frage: Herr Vogel, Sie sind durch Ihre tägliche Beratung besonders nah an den Menschen. Wie stark ist die Nachfrage im Moment?

Gerhard Vogel: Sie will nicht abreißen, und das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise sinkt der Bedarf an Beratungsgesprächen mit Beginn der Sommerferien. Der Leidensdruck in den Familien ist aber nach wie vor sehr hoch.

Was sind die drängendsten Themen?

Seit der Zeit, in der Familien wenig Kontakt nach außen möglich war, stiegen vor allem Anfragen zu Trennung und Scheidung. Auch nahm häusliche Gewalt spürbar zu. Um diese Themen geht es immer noch sehr stark, ebenso Erziehungs—und Betreuungsprobleme.

Corona ging wie eine Schockwelle durch Familien

Mit den Lockdown-Zeiten war also längst nicht das Schlimmste überstanden?

Da kochte es bereits unter dem Deckel, hatte man den Eindruck. Doch richtig kamen die Spannungen erst danach zum Tragen. So entlastend für viele das Homeoffice auch war und ist – viele Eltern arbeiten ja auch jetzt noch von zu Hause aus – so sehr haben sich familiäre Probleme dadurch teilweise verdichtet. Man muss sagen: Corona mit all seinen Dimensionen ging wie eine Schockwelle durch Familien, die immer noch spürbar ist. Das bestätigt die dramatische Zunahme von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen.

Und zu Corona kamen dann noch ganz andere Krisen hinzu ...

Krieg, die damit verbundenen Ängste, die Teuerungen – diese Sorgen rücken uns gerade regelrecht auf die Pelle. Es ist eine alte psychologische Wahrheit: Das, was uns so unmittelbar betrifft, löst Ängste in uns aus.

Haben diese neuen Ängste die typischen Corona-Sorgen in gewisser Weise abgelöst?

Nein, die erwähnten familiären Probleme spielen immer noch eine riesige Rolle. In der Öffentlichkeit ist zu wenig die Rede von denen, die am meisten betroffen sind: Kinder und Jugendliche, Senioren, Familien mit behinderten Kindern, Menschen in prekären Verhältnissen, Langzeitarbeitslose, von häuslicher Gewalt Betroffene, Alleinerziehende.

Nehmen wir die alleinerziehende Mutter: Ihr Leben wurde so umgekrempelt durch Corona, sie braucht ihre volle Konzentration und Kraft, irgendwie den Alltag zu bewältigen. Und die Krise zieht sich. Schlechte Nachrichten von Inflation und Kriegsgeschehen muss sie zwangsläufig ausblenden – was aber nur so lange gut geht, bis die Stromrechnung reinflattert.

Wer von Haus aus nicht gut vernetzt war, bekam das in der Krise schmerzlich zu spüren, etwa bei der Betreuung der Kinder. Wir beobachten, wie Menschen sogar einen dringend erwünschten Beratungstermin organisatorisch kaum stemmen können.

In Talkshows sitzen nicht die, auf die wir blicken sollten

Was ist mit Online-Beratungen?

Gerade die jetzt existenziell Betroffenen verfügen oft nicht mal über Geräte für Online-Beratungen. Dort haben wir unter anderem angesetzt und Familien über die Monate entsprechend ausgestattet.

Diese Krisenzeiten sind für jeden herausfordernd, aber solche Lebensbedingungen werden immer vergessen: Diese Menschen, die am Rand der Gesellschaft sind, tauchen eben nicht so auf in den Talkshows. Sie werden kaum gehört.

Und man muss klar sagen: Positives Denken allein hilft einem dann auch nicht weiter. Wenn uns diese Krisenzeiten etwas eindeutig gezeigt haben, dann das. Die in der amerikanischen Psychologie verwurzelte Vorstellung, dass wir schon Veränderungen herbeiführen können, wenn wir nur guter Dinge bleiben, ist irreführend.

Was genau hilft weiter, meinen Sie?

Corona hat gezeigt, wie wichtig etwa soziale Netzwerke sind oder die Möglichkeit, in die Natur zu gehen. Es kommt also auf die Rahmenbedingungen an – und hier kann man durchaus etwas tun. Wenn ich mein Kind in einen anderen Stadtteil in die Kita fahren muss und der Benzinpreis hochgeht, sind das Situationen, die Menschen übers Limit pushen im Moment. Die Lösung liegt nicht darin, sich einfach zusammenzureißen, sondern sich zusammenzuschließen. Zum Beispiel in der Elternschaft. Das Miteinander ist nun entscheidend.

Sommer nutzen, um Kraft zu tanken: "Man spürt ein Aufatmen"

Es wird viel von einer Kluft gesprochen, die Corona in die Gesellschaft gerissen habe. Sie sehen das optimistischer?

Ich glaube schon, ja. Die Coronakrise hat viele aufgerüttelt. Die Menschen sind besser darin geworden, einander zu unterstützen, Nachbarschaftshilfen wurden verstärkt. Viele haben gelernt, Beratung in Anspruch zu nehmen. Das können persönliche Gespräche sein bis hin etwa zu Online-Angeboten wie unseren Tipps, wie man mit Kindern einfühlsam über den Krieg spricht.

Der Ausblick auf den Herbst erfüllt viele bereits mit Schrecken. Wie lautet Ihre Prognose aus psychologischer Sicht?

Ich glaube, dass wir profitieren können vom Gelernten aus der Krise. Viele sind jetzt mehr im Gespräch, die vorher vereinzelt oder stark zurückgezogen waren. Das hat der Sommer aufgebrochen. Man spürt ein Aufatmen: Die Menschen genießen, dass sie wieder befreiter Zeit miteinander verbringen können und schöpfen daraus Kraft. Familien kompensieren die psychischen Belastungen der vergangenen Zeit.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte an, dass er Schulschließungen nicht komplett ausschließen kann. Was würde das bedeuten?

Die großen psychischen Belastungen sind durch Studien belegt. Jeder weiß auch, dass persönliche Begegnungen nicht durch digitale Kontakte zu ersetzen sind und das besonders in der Pubertät. Die Politik wird also sehr genau darauf achten müssen, dass die Maßnahmen im Verhältnis bleiben.

Das gilt aber für alle genannten Randgruppen: Von ihnen hören und sehen wir in der Öffentlichkeit nicht viel, die Politik muss sie aber besonders im Blick gaben. Hier sehe ich die eigentliche Kluft: Was passiert mit diesen Menschen?

Wir sind noch mittendrin zu reparieren, was durch die Krise zerstört wurde. Der Nachholbedarf ist groß, das wiederzubeleben, was wir und unsere Kinder alles versäumt haben. Aus psychologischer Sicht wäre es verhängnisvoll, in dieser Phase schon wieder Kontakte zu unterbrechen und neue Herausforderungen aufzutürmen.

Haben Sie noch konkrete Tipps, wie wir alle maximal auftanken können jetzt im Sommer?

Unternehmen Sie viel mit Freunden und Familie, denn Kontakte wirken stressabbauend. Schaffen Sie sich positive Erlebnisse. Das sind die Dinge, von denen wir zehren. Ermöglichen Sie Senioren in ihrem Umfeld möglichst viel Ansprache. Lassen Sie Ihr Kind Gleichaltrige treffen. Sie können sie nicht zum Fußballturnier bringen? Dann schließen Sie sich zusammen. Unterstützen Sie andere, aber nehmen Sie auch Hilfe an.

Hinweis: Die Caritas bietet kostenlose Beratungen für verschiedene Lebenslagen - Alter, Krankheit, Schulden, Schwangerschaft oder familiäre Probleme - online, telefonisch oder persönlich.
Zur Person: Gerhard Vogel leitet seit sechs Jahren als Dipl.-Psychologe die Caritas-Beratungsstelle in Düsseldorf-Wersten, ist systemischer Familientherapeut und Supervisor und hat langjährige Erfahrung in der Jugendhilfe mit besonderem Augenmerk für Kinder psychisch kranker Eltern. Er ist Vater von zwei erwachsenen Töchtern, die neben ihrem Medizinstudium in München ehrenamtlich bei der Caritas an der Tafel für Bedürftige am Bahnhof arbeiten.

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