Das jüngste Mitglied im Dax ist ein Lieferdienst, der keinen Cent in Deutschland verdient. Das Geschäftsmodell birgt hohe Risiken - und könnte am Ende einen mächtigen Konkurrenten auf den Plan rufen.

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Deutschland hat einen neuen Börsenstar: Delivery Hero ist in den Dax aufgestiegen und ersetzt dort den insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard.

Der Berliner Lieferdienst-Service will ein aufrichtiges deutsches Unternehmen auf Augenhöhe zu den Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley sein. Dass ein Unternehmen aus Berlin im Jahr sieben seines Bestehens nun neben Imperien wie Siemens, BASF und der Deutschen Bank steht, klingt gut, kam jedoch bei den Investoren nur mittelmäßig an. Über sieben Prozent hat die Aktie seit dem Aufstieg nachgegeben.

Delivery Hero - eine Art "Google fürs Essen"

Um zu verstehen, weshalb dieser Pessimismus mehr sein könnte als das übliche Zittern des Aktienkurses, lohnt ein Blick auf das Geschäftsmodell von Delivery Hero.

In mehr als 40 Ländern wickelt das Unternehmen Essenslieferungen ab und kümmert sich um die Vermarktung der Restaurants, um den Bestellvorgang in der hauseigenen App, die anschließende Lieferung und die Bezahlung. Für jede Bestellung erhält Delivery Hero eine Provision, dazu kommen Monatspauschalen für das Auflisten der jeweiligen Restaurants in der App. Wenn man so will, ist Delivery Hero eine Art "Google für Bestell-Essen".

Besonders stark ist das Berliner Unternehmen in Asien, Osteuropa und dem Nahen Osten vertreten, wo 2019 knapp die Hälfte des Umsatzes erwirtschaftet wurde. Das liegt zum einen daran, dass die Lust in den Schwellen- und Entwicklungsländern an Pizza, Burger und Nasigoreng derzeit in die Höhe schießt, aber auch daran, dass die im Vergleich zu den USA und Europa niedrigen Sozialstandards das Geschäftsmodell der Lieferdienste dort besonders einträglich gestalten.

Als "Logistiker der letzten Meile" sind die Lieferdienste ähnlich wie die Post in einem ohnehin margenschwachen Geschäftsfeld unterwegs, weil die geringe Zahlungsbereitschaft der Kunden bei der kleinsten Preiserhöhung von Selbstabholern, Wettbewerbern und Restaurants, die ihre Ware selbst ausliefern, abgeschöpft werden kann.

Den Wettbewerb tragen die Lieferdienste deshalb vor allem auf dem Rücken der Fahrer aus, die insbesondere in Lateinamerika, wo der Markt besonders schnell wächst, zu prekären Bedingungen angestellt sind. In Brasilien beispielsweise verdient ein Fahrer, der häufig sieben Tage die Woche, neun Stunden am Tag frische Ware ausliefert, 900 Real, also rund 150 Euro - im Monat. Motorrad, Sprit und Versicherung exklusive.

Steigende Sozialstandards verhageln das Geschäftsmodell

Doch dieses Geschäftsmodell ist nicht frei von Risiken. Immer weniger Staaten verstehen sich als verlängerte Werkbank der westlichen Welt und heben die Sozialstandards teilweise in beträchtlichen Schritten an.

Längst gibt es in Argentinien, Chile und Ecuador Mindestlöhne, weitere Staaten werden folgen, auch weil die Rufe danach lauter werden. In Taiwan, Malaysia, Bangladesch und Kambodscha gingen die Delivery-Hero-Fahrer zuletzt auf die Straße, weil sie sich schlecht behandelt fühlten.

In Argentinien ordnete die Sekretärin für Binnenwirtschaft an, dass die App-Dienste ihre Bücher öffnen müssen. Sie sollen ihre Kommissionen aufdecken von Januar 2019 bis Juli 2020. Der Schritt zur Besteuerung oder Reglementierung ist dann nicht mehr weit. Das Spielfeld für den Wettbewerb auf Kosten der Arbeitnehmer leert sich.

Die Lieferdienste stecken in einem Dilemma. Eine bessere Bezahlung führt unweigerlich zu einer höheren Kostenbasis, und die kann sich gerade kaum ein Lieferdienst leisten - schon gar nicht Delivery Hero.

Firmenchef Niklas Östberg hat dem rasanten Wachstum jeden Profitabilitätsanspruch untergeordnet und das einstige Ziel, bis zum Jahr 2018 schwarze Zahlen zu schreiben, längst kassiert. In fast allen Märkten stehen horrende Verluste in der Bilanz. 2018 machte Delivery Hero ein Minus von 242 Millionen, 2019 waren es sogar 648 Millionen Euro. Analysten gehen im ersten Halbjahr dieses Jahres von 352 Millionen Euro Verlust aus - das sind rund 60 Cent, die Delivery Hero für jede ausgelieferte Pizza abschreiben muss.

Das wäre nicht erwähnenswert, handelte es sich bei Delivery Hero noch um ein gewöhnliches Startup. Besonders in den ersten Jahren, der sogenannten Wachstumsphase, müssen junge Unternehmen hohe Umsatzsteigerungen an den Tag legen, um Wettbewerber zu verdrängen und Marktanteile zu gewinnen.

"The Winner Takes it all" nennt sich dieses Prinzip, nachdem nur der eine Marktteilnehmer, der in einem wettbewerbsstarken Markt das Gros der Kunden an sich bindet, überlebt. Dafür braucht man vor allem eins – tiefe Taschen.

Dieses Risiko kann sich auszahlen, etwa im Fall Amazon. Aber auch ein Totalverlust ist möglich, und das ist im Fall Delivery Hero ein Problem: Denn der Dax ist keine Anlageklasse für Zocker, sondern ein Index für risikoaverse Anleger, etwa Pensionsfonds. Ein Unternehmen, das noch nicht den Beweis erbracht hat, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu besitzen, steht damit mindestens unter Rechtfertigungszwang.

Branche steht vor einer Konsolidierung

Dazu kommt, dass die Branche vor einer Konsolidierung steht. Eine handvoll global arbeitender Unternehmen teilt den Markt, der nach Branchenexperten allein in Deutschland auf 2,2 Milliarden Euro Umsatz geschätzt wird, bislang unter sich auf.

Erst im Juni hat die weltweite Nummer zwei "Just Eat Takeaway" den amerikanischen Lieferdienst Grubhub für 7,3 Milliarden US-Dollar übernommen und damit seine dominante Marktposition ausgebaut. Ständig drängen neue Konkurrenten mit eigenen Lieferflotten wie DoorDash und UberEats auf den Markt, denen es wie Delivery Hero nicht gelingt, ein profitables Geschäft aufzubauen, die sich aber gegenseitig die Marktanteile abnehmen.

Jitse Groen, Vorstandschef von Just Eat Takeaway, warnt vor diesem Hintergrund vor "einer Blase" in der Lieferdienstbranche, weil Investoren zu viel Geld in unprofitable Liefergeschäftsmodelle steckten. "Praktisch niemand investiert mehr in Onlinetravel. Stattdessen wird nun wieder der Lieferbereich geflutet", sagte er dem "Manager Magazin". "Wenn die Blase platzt, werden viele bankrottgehen."

Delivery Hero verdient als einziges Dax-Unternehmen keinen Cent in Deutschland

Noch ist aber nicht alles Pulver verschossen: Weil es den Kunden im Prinzip egal ist, wer ihre Bestellung abwickelt, leistete sich Delivery Hero im Jahr 2018 einen Wettstreit mit seinem niederländischen Konkurrenten Takeway, der vor allem über teure Werbemaßnahmen ausgefochten wurde.

Am Ende freuten sich die Vermieter von Plakatwänden und die Privatsender: Mehr als 100 Millionen Euro steckten die beiden Unternehmen in eine ruinöse Werbeschlacht, bevor Delivery Hero der Atem ausging. Östberg verkaufte Delivery Heros Deutschland-Geschäft an den niederländischen Konkurrenten. Als einziges Dax-Unternehmen verdient Delivery Hero seitdem keinen Cent in Deutschland.

Im Gegensatz dazu könnte diese Auseinandersetzung aber Kleinkram sein, wenn sich Amazon irgendwann dazu entscheiden sollte, in den Markt einzutreten. Mit seiner Lieferdienstsparte "Fresh" hat das Unternehmen von Jeff Bezos bereits bewiesen, frische Ware innerhalb weniger Minuten an die Haustür liefern zu können.

Gut möglich, dass das Unternehmen an der Seitenlinie darauf wartet, bis sich mit Lieferdiensten Geld verdienen lässt, um dann zuzuschlagen. Sollte ausgerechnet Delivery Hero diesen Beweis erbringen, wäre es ein Opfer seines eigenen Erfolgs.

Verwendete Quellen:

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