Als Kind in eine Mausefalle gefasst, die Mutter im Einkaufszentrum verloren, Kaffee mit Prinz Charles getrunken? In wissenschaftlichen Versuchen berichteten Teilnehmer von konkreten Erinnerungen. Nur: Nichts davon war wirklich passiert, ihr Gedächtnis spielte ihnen einen Streich. Wie kann das sein?

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Als man sich gestern gestoßen hat, trug man rote Socken und wollte gerade das Fenster öffnen. Klar weiß man das im Normalfall noch genau. Ist ja noch nicht so lange her. Doch wie ist das eigentlich mit Erinnerungen, die weiter zurückliegen? Wie verlässlich ist das Gedächtnis, wenn es um Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend geht? Mit diesem Thema hat sich die Forscherin und Psychologin Julia Shaw in einer Studie beschäftigt.

Die Ergebnisse sind erstaunlich: 70 Prozent der Teilnehmer an der Studie konnten sich vermeintlich daran erinnern, in ihrer Jugend jemanden attackiert oder mit einer Waffe bedroht zu haben oder beim Diebstahl ertappt worden zu sein. Nur ist das alles nie passiert. Die Teilnehmer erinnerten sich an Taten, die sie nie begangen hatten – und füllten ihre Gedächtnislücken auch noch mit erfundenen Details.

Eine Teilnehmerin berichtete zum Beispiel, ihren blauen Pullover getragen und am Lagerfeuer gesessen zu haben, als sie in einen Kampf geraten sei, der mit einem Polizeieinsatz endete – und der tatsächlich nie stattgefunden hatte.

Fakten und erfundene Details werden zu einer Geschichte vermischt

Doch wie kann das passieren? Forscherin Julia Shaw hatte zunächst die Eltern der Teilnehmer kontaktiert und sie um einige Details aus der Jugend ihrer Kinder gebeten: Wo sie gewohnt hatten zum Beispiel oder wie der Name des besten Freundes war. Diese Informationen verwob sie in Gesprächen mit den erfundenen Taten, an die die Teilnehmer sich "erinnern" sollten, zu einer Geschichte.

In einem ersten Gespräch präsentierte sie den Teilnehmern den erfundenen Vorfall. Sie habe die Idee eingepflanzt, dass es das Ereignis gegeben habe, erklärte Shaw in einem Interview. In der zweiten Woche fielen den meisten Teilnehmern plötzlich vage Details ein. In einem letzten Gespräch mit der Forscherin hatten sie dann eine vollständige Erinnerung gebastelt – und gaben Taten zu, die sie nie begangen hatten.

"Dieses Phänomen ist nicht neu", sagt die Psychologin Dr. Anja Kannegießer aus Essen. Sie ist Vorsitzende der Sektion Rechtspsychologie des Berufsverbands der Psychologinnen und Psychologen in Deutschland.

Bereits vor einigen Jahren hätten Forscher in Studien falsche Erinnerungen erzeugt. Dabei sollten sich Personen daran erinnern, wie sie als Kind ihre Mutter im Einkaufszentrum verloren hätten oder in eine Mausefalle gegriffen hätten. In einer Studie aus dem Jahr 2006 wurden die Teilnehmer gar überzeugt, Tee mit Prinz Charles getrunken zu haben.

Wie falsche Erinnerungen entstehen

"Damit falsche Erinnerungen bei Erwachsenen entstehen, braucht man eine Erklärung dafür, dass man sich nicht erinnern kann", sagt Anja Kannegießer. Zum Beispiel: Das Ereignis ist sehr lange her. Oder es war so traumatisch, dass man es aus dem Gedächtnis verdrängt hat.

Meistens beginne eine falsche Erinnerung mit dem unbestimmten Gefühl, "dass da etwas war". Erinnerungslücken würden nach und nach mit Details gefüllt. "Manchmal fällt das zum Beispiel dadurch auf, dass es zu viele Details gibt", sagt Kannegießer. Es sei eher unwahrscheinlich, dass sich ein Erwachsener plötzlich daran erinnern könne, in einer bestimmten Situation als Kind einen blaugestreiften Schlafanzug getragen zu haben.

Das alles wirft natürlich auch die Frage auf, wie verlässlich Aussagen von Zeugen und Tätern sind, die bei der Polizei oder vor Gericht gemacht werden. "Es ist bekannt, dass Aussagen von Zeugen relativ unzuverlässig sein können", sagt Rechtspsychologin Kannegießer. Das fließe in die Bewertung solcher Aussagen stets mit ein.

Immer wieder einmal gibt es auch Fälle, in denen Menschen eine Tat gestehen, die sie gar nicht begangen haben. "So etwas passiert natürlich nicht laufend", so Kannegießer. Am ehesten komme es zu falschen Geständnissen, wenn Menschen zuvor mit Fragen in eine bestimmte Richtung gedrängt worden seien, zum Beispiel: "Sie haben doch … Wissen Sie nicht mehr, dass …?"

Wenn es darum geht zu beurteilen, wie Aussagen von Zeugen oder von Tätern einzuschätzen sind, sei darum ganz entscheidend, wie sie entstanden seien. "Bei der Polizei geht man inzwischen oft dazu über, Befragungen auf Video aufzunehmen." So lasse sich auch später noch klar nachvollziehen, in welcher Situation sich jemand an etwas erinnert – oder sich ganz plötzlich an etwas zu erinnern glaubt, nachdem er mit Fragen gezielt dorthin gedrängt worden sei.

Dass das gar nicht so schwer ist, haben die Versuche ja eindeutig gezeigt.

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