- Weltweit haben viele Menschen eine Laktoseintoleranz - in Europa dagegen nur wenige.
- Eine Studie zeigt nun, wie es wohl im Lauf vieler Jahrtausende dazu kam.
Menschen in Europa konsumierten Milch schon Tausende Jahre, bevor sie die genetische Fähigkeit entwickelten, sie auch zu vertragen. Dies trug offenbar zur Entwicklung der in Europa besonders verbreiteten Laktosetoleranz bei, wie ein internationales Forschungsteam im Fachblatt "Nature" schreibt. Demnach spielten gerade Krisenzeiten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Fähigkeit, Milch zu verdauen. Wer das konnte, überlebte wahrscheinlich eher Hungersnöte und Krankheiten.
Um Milch zu verdauen wird das Enzym Laktase benötigt
Der Mensch ist das einzige Säugetier, das auch über das Säuglingsalter hinaus Milch trinkt. Möglich macht dies eine Genmutation, die es auch Erwachsenen erlaubt, Milch zu verdauen. Weltweit verfügt etwa ein Drittel der Menschen über dieses Fähigkeit, in Europa sind es sogar über 85 Prozent. Ohne diese Mutation kann Milchzucker (Laktose) nicht vollständig abgebaut werden und im Dickdarm Krämpfe, Durchfall und Blähungen verursachen – Symptome einer Laktoseintoleranz, von der in Deutschland etwa 15 Prozent der Erwachsenen betroffen sind.
"Um Laktose zu verdauen, müssen wir das Enzym Laktase in unserem Darm produzieren", erläutert Ko-Autor George Davey Smith von der University of Bristol. Fast alle Säuglinge produzierten Laktase, aber global betrachtet nehme die Fähigkeit dazu bei den meisten Menschen zwischen dem Abstillen und dem Jugendalter rasch ab. "Ein genetisches Merkmal, die so genannte Laktase-Persistenz, hat sich jedoch in den letzten 10.000 Jahren mehrfach entwickelt und in verschiedenen milchtrinkenden Bevölkerungsgruppen in Europa, Zentral- und Südasien, dem Nahen Osten und Afrika verbreitet", führt er aus.
Milchreste auf Keramikscherben analysiert
Um herauszufinden, wie diese Laktase-Persistenz entstand, erstellte das Team um Richard Evershed aus Bristol eine Datenbank mit Informationen zu Milchresten auf alten Tonscherben. Dafür wurden Daten zu fast 7.000 tierischen Fettrückständen auf mehr als 13.000 Keramikfragmenten von 554 Fundorten analysiert.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Milchkonsum in Europa schon vor 9.000 Jahren weit verbreitet war, aber je nach Region und Zeit variierte. Die genetische Mutation, die zur Laktase-Persistenz führt, sei hingegen erst vor etwa 5.000 Jahren erstmals aufgetreten und vor 3.000 Jahren in nennenswerter Häufigkeit vorhanden gewesen. Darauf deuten DNA-Sequenzen von mehr als 1.700 prähistorischen Europäern und Asiaten hin.
Im letzten Schritt überprüften die Forscher, ob der über die Zeit unterschiedliche Milchkonsum die Entwicklung der Laktosetoleranz erklärt. So wäre etwa denkbar, dass immer mehr Menschen Milch tranken, weil diese sich gesundheitlich positiv auswirkte - die entsprechende Genmutation also evolutionär von Vorteil war. Zur Überraschung des Teams bestätigte die Modellierung genetischer und archäologischer Daten diese These nicht.
Auch genetische Daten flossen in Untersuchung ein
Auch eine Untersuchung der genetischen und medizinischen Daten von mehr als 300.000 heutigen Europäern ergab nur minimale Unterschiede im Milchkonsum von Menschen mit und ohne Laktase-Persistenz. Selbst laktoseintolerante Menschen würden nicht wirklich krank, wenn sie Milch tränken, sagt Smith. Bei ihnen könne es in Verbindung mit Durchfall zwar zu Dehydrierung kommen - aber das sei bei gesunden Menschen nicht tödlich. "Wenn man jedoch stark unterernährt ist und Durchfall hat, dann hat man lebensbedrohliche Probleme", erklärt der Epidemiologe: "Wenn ihre Ernten ausfielen, konsumierten die prähistorischen Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit unfermentierte Milch mit hohem Laktosegehalt – genau dann, wenn sie es nicht sollten."
Um dies zu prüfen, fütterten die Forscher ihre statistischen Modelle mit Informationen zu früheren Hungersnöten und Belastungen durch Krankheitserreger. Tatsächlich scheint die Laktase-Persistenz-Genvariante zu solchen Zeiten einer stärkeren natürlichen Selektion unterworfen gewesen zu sein.
Laktoseintoleranz könnte evolutionärer Nachteil gewesen sein
Die Autoren schreiben dazu: "Unsere Studie zeigt, dass die Gesundheit der Menschen in der späteren Vorgeschichte, als die Bevölkerung und die Siedlungsgröße wuchsen, zunehmend durch schlechte hygienische Verhältnisse und häufigere Durchfallerkrankungen, insbesondere tierischer Herkunft, beeinträchtigt wurde."
Unter diesen Bedingungen hätte der Verzehr von Milch zu einem Anstieg der Sterberate geführt, wobei die Menschen ohne Laktase-Persistenz besonders gefährdet waren. Hungersnöte, in deren Zuge Krankheiten und Unterernährung zunahmen, hätten diesen Umstand noch verschärft.
Mit anderen Worten: Während Hungersnöten, in deren Zuge Krankheiten und Unterernährung zunahmen, könnten laktoseintolerante Menschen einen evolutionären Nachteil gehabt haben. "Dies würde dazu führen, dass Individuen, die keine Kopie der Laktase-Persistenz-Genvariante tragen, mit größerer Wahrscheinlichkeit vor oder während ihrer reproduktiven Jahre starben." Dadurch sei der Anteil der Menschen mit Laktase-Persistenz in der Bevölkerung gestiegen. (dpa/Alice Lanke/mgb)
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