Im Oktober vor 55 Jahren spitzte sich der Konflikt zwischen den Supermächten des Kalten Krieges, der UdSSR und den USA so zu, dass sogar ein Atomkrieg denkbar schien. Dass es nicht dazu kam, galt lange als Verdienst der damaligen US-Administration - ein Bild, das inzwischen relativiert wurde. Die Frage, wie nahe die Welt vor einem Atomkrieg stand, ist ebenfalls bis heute umstritten.

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Es dauerte eine Woche, bis die Öffentlichkeit überhaupt von der Konfrontation erfuhr, die heute als die "Kuba-Krise" bekannt ist - rückblickend einer Höhepunkt der Spannungen des Kalten Krieges. An diesem Tag, dem 22. Oktober 1962, hielt US-Präsident John F. Kennedy eine Fernsehansprache, in der er sagte, man werde "nicht verfrüht oder unnötig" einen weltweiten Atomkrieg riskieren, man werde vor diesem Risiko aber "auch nicht zurückschrecken, wenn wir ihm gegenüberstehen".

Die Konfliktparteien waren die Protagonisten des Kalten Krieges: die USA und die UdSSR. Sie hatten gemeinsam den Krieg gegen Nazi-Deutschland gewonnen, sich in der Folge aber zu erbitterten Kontrahenten entwickelt.

Es ging um die Frage, wer von beiden die größere Supermacht war und welches System das überlegene. Dazu gehörte auch, ein Drohpotenzial aufzubauen - etwa in Form von Raketen, deren Anlagen in befreundeten Staaten aufgebaut wurden, und die teilweise mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet werden konnten.

"Operation Anadyr" provoziert die USA

Einer der mit der Sowjetunion befreundeten Staaten war Fidel Castros sozialistisches Kuba, das von der US-amerikanischen Küste nicht weit entfernt ist, und für die USA ein Symbol für die Gefahr einer Ausbreitung von Sozialismus und Kommunismus war.

Dorthin brachte der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow ab dem Frühsommer 1962 Soldaten, und Raketen mit einer großen Reichweite. "Anadyr" hieß diese Geheim-Operation, und sie war ein riesiges Projekt.

"Niemals zuvor", schreibt der Historiker Bernd Greiner in "Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg", "hatte man in Friedenszeiten Waffen, Material, technisches Personal und Truppen in einem derartigen Umfang ins Ausland verlegt, geschweige denn nach Übersee."

Es dauerte, bis die USA davon erfuhren und sich ein Bild davon machen konnten. Eindeutige Beweisfotos über die auf Kuba stationierten Raketenstellungen lieferten am 15. Oktober Aufklärungsflugzeuge. Am Tag darauf trat zum ersten Mal der Krisenstab, das Executive Committee, kurz: ExComm, zusammen.

Dieser Tag, also der 16. Oktober 1962, gilt als Beginn der Krise. Was folgte, waren geheime Beschlüsse, hektische Manöver, Vorstöße und Rückzüge, die später Stoff für zahlreiche Bücher und Filme sein sollten.

Höchster Alarmzustand unterhalb von "Atomkrieg"

In den Tagen nach dem ersten ExComm-Treffen fanden weitere Erkundungsflüge statt, um das Ausmaß der Bedrohung ermessen zu können. Am 18. Oktober traf sich John F. Kennedy mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko, die Raketen kamen aber nicht zur Sprache.

Das ExComm arbeitete an möglichen Lösungen, wobei die US-Militärs Druck auf den Präsidenten ausübten, die Raketenstellungen gewaltsam zu entfernen, wie der Historiker Stefan Brauburger in seinem Buch "Die Nervenprobe" schreibt.

Um Chruschtschow zum Rückzug zu zwingen - und um Zeit zu gewinnen - setzte Kennedy erst einmal auf eine Seeblockade. Alle Schiffe mit Zielort Kuba und Angriffswaffen an Bord würden zurückgeschickt, kündigte Kennedy in seiner Ansprache am 22. Oktober an. In Kraft trat die Seeblockade zwei Tage später.

Der 24. Oktober war auch der Tag, an dem die strategischen Luftstreitkräfte in den höchsten Alarmzustand unterhalb eines Atomkriegs versetzt wurden, Defense Condition 2, kurz DefCon 2. Eine massive Mobilmachung folgte.

Kennedy forderte Chruschtschow auf, die Raketenstellungen abzubauen, und drohte im Fall eines Angriffs mit einem Gegenschlag.

Ein "Schwarzer Samstag" und ein Geheimtreffen

Chruschtschow lehnte die Forderung ab, ging aber auch nicht auf Konfrontationskurs, als sowjetische Schiffe am 23. Oktober den Rand der Blockade erreichten. Dennoch gab es immer wieder Zusammenstöße sowjetischer und US-amerikanischer Schiffe. Die Lage war in den Tagen nach Inkrafttreten der Seeblockade brenzlig.

Als kritischster Tag gilt der 27. Oktober. An diesem "Schwarzen Samstag" wurde über Kuba ein US-Aufklärungsflugzeug von einer sowjetischen Luftabwehrrakete abgeschossen. Der Pilot starb. Kubas Staatschef Castro, der eine Invasion der USA fürchtete, forderte Chruschtschow zu einem atomaren Erstschlag auf, falls die USA Kuba tatsächlich überfallen sollten.

Chruschtschow lehnte das ab und machte den USA ein Angebot: Kennedy sollte versprechen, dass Kuba nicht angegriffen werde, und er sollte US-Raketen in der Türkei abbauen. Im Gegenzug wollte Chruschtschow die sowjetischen Raketen auf Kuba zurückziehen.

An jenen Beratern vorbei, die auf eine militärische Lösung drängten, trafen sich am Abend des 27. Oktober der Bruder des Präsidenten und damalige Generalstaatsanwalt, Robert Kennedy, und der sowjetische Botschafter Anatolij Dobrynin zu einem geheimen Gespräch.

Man einigte sich: Die USA sicherten zu, Kuba nicht anzugreifen, und die Sowjets verpflichteten sich, die Raketenstellungen abzubauen. Die Raketen in der Türkei sollten später, möglichst ohne große öffentliche Aufmerksamkeit, verschwinden. Verkündet wurde die Einigung am 28. Oktober, die Lage entspannte sich daraufhin.

"Wer angefangen hat zu schießen, kann nicht mehr aufhören"

Auch weil der Türkei-Teil des Deals nicht bekannt wurde, galten die USA lange als Sieger in dieser Auseinandersetzung, und als diejenigen, die eine größere Katastrophe verhindert haben. Diese Sicht wird auch heute noch von einigen Historikern vertreten.

Sie sei aber nicht richtig, schreibt der Historiker Greiner. Seine Auswertung der Tonbandaufnahmen, die Kennedy heimlich von den Sitzungen des Krisenstabs anfertigen ließ, sowie von Gesprächen mit Zeitzeugen, führten ihn vielmehr zu dem Schluss: "Dass die Krise nicht eskalierte, lag auch - wenn nicht in erster Linie - an Nikita Chruschtschow."

Er habe, anders als die USA, nicht mobil gemacht, habe alle Schiffe mit Waffen vor Inkrafttreten der Seeblockade umkehren lassen, und habe - das belegten in den 1990er Jahren zur Verfügung gestellte sowjetische Dokumente - sich schon Stunden vor dem Geheim-Deal Robert Kennedys und Anatolij Dobrynins dafür entschieden, die Raketen abzubauen.

Chruschtschow, der seinen Mitarbeitern stets gepredigt habe: "Wer angefangen hat zu schießen, kann nicht mehr aufhören", habe die Gefahr eines galoppierenden Kontrollverlustes gesehen. In diesen Tagen sei er wohl von seinen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg eingeholt worden, schrieb Greiner in der "Zeit".

Andere Historiker, wie Sheldon Stern, sehen Kennedys Rolle ebenfalls kritisch, rechnen es ihm aber hoch an, dass er es abgelehnt habe, vorschnell auf Gewalt zu setzen - auch wenn er von seinen Beratern dazu gedrängt worden sei.

Wie groß war die Gefahr eines Atomkriegs?

Umstrittener noch als die Frage nach den Verdiensten in der Kuba-Krise ist die nach der Gefahr eines Krieges in diesen Tagen im Oktober 1962. Stand die Welt wirklich am Abgrund, wie es vielfach geschrieben wird? Wie groß war das Risiko eines Atomkrieges?

Die Antworten von Zeitzeugen auf diese Frage reichen von "so ziemlich bei null" (Douglas Dillon, damals US-Finanzminister, zu dem Historiker Joseph S. Nye) über "vielleicht 1:50" (Robert McNamara, damals Verteidigungsminister, ebenfalls zu Nye) bis hin zu "Wir wussten nicht, ob wir noch einmal aufwachen würden" (Dean Rusk, damals Außenminister, zu dem US-Diplomaten Richard Holbrooke).

Auch Stern kommt durch seine Analysen der Mitschnitte der ExComm-Sitzungen zu dem Urteil, dass niemals zuvor oder danach das Überleben der menschlichen Zivilisation so sehr in Gefahr gewesen sei wie in diesen Wochen.

In jedem Fall blieb die Kuba-Krise nicht folgenlos. Die Sowjets zogen aus ihr den Schluss, dass sie atomar aufrüsten müssen, was dann unter Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew auch geschah. Zu einer Zuspitzung wie 1962 kam es aber nicht wieder, weil sich die Supermächte fortan wieder aus dem Weg gingen.

Oder wie es McNamara 1987 formulierte: "Wir haben zwei Dinge gelernt. Erstens: Man kann eine Krise nicht managen, wenn es sich dabei um eine militärische Konfrontation zwischen den beiden großen Mächten oder zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato handelt. Und deshalb lautet die zweite Lehre: Wir müssen lernen, Krisen zu vermeiden."

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