- Der zweite Stresstest der Stromnetzbetreiber ist aus Sicht von Wissenschaftlern aussagekräftig und valide.
- Dass Energieminister Robert Habeck zwei der drei AKWs in einem Reservebetrieb halten will, sei nachvollziehbar und verantwortungsvoll, wird aber auch kritisiert.
Die Ergebnisse des mit Spannung erwarteten Stresstests der vier deutschen Stromnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW wurde am Sonntag auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Die Risikoanalyse war notwendig geworden, weil sich die Lage der Stromversorgung zusätzlich zum Krieg in derUkraine im Laufe des Sommers infolge dreier Entwicklungen verschärft hatte:
- Von den französischen Atomkraftwerken sind derzeit 32 vorübergehend abgeschaltet und damit rund die Hälfte aller Anlagen.
- Die Pegel in den Flüssen Europas sind so niedrig, dass Kühlwasser und Kohletransport für Kraftwerke nicht gesichert sind.
- Die Wasserstände in den Speicherseen Österreichs, der Schweiz und Norwegens sind ebenfalls so niedrig, dass dortige Wasserkraftwerke nicht mehr mit voller Kraft laufen können.
Kohle- und Gaskraftwerke aus der Reserve holen
Die zweite Risikoanalyse, die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erstellt worden war, kam im Vergleich dreier Risikoszenarien zu dem Ergebnis, dass "stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können."
Um die Stromnachfrage und die Netzsicherheit im Winter 2022/23 zu gewährleisten, sind nach dem Bericht verschiedene Maßnahmen notwendig. So sollten die Transportkapazitäten der Stromleitungen bei kaltem Wetter erhöht und eine Reihe weiterer Kohle- und Gaskraftwerke aus der Reserve wieder an den Markt zurückgeholt werden. Auch die letzten drei Atomkraftwerke, die noch am Netz sind, sollten bis März verfügbar bleiben, empfiehlt der Bericht.
Eigentlich sollten diese drei verbliebenen Atomkraftwerke im Zuge des Ausstiegs aus der Atomkraft am 31.12.2022 endgültig vom Netz genommen werden.
Zwei Kernkraftwerke in die Reserve
Energieminister
Die Risikoanalyse der Netzbetreiber sei "sehr realistisch und pragmatisch", urteilt Christian Rehtanz vom Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3) der TU Dortmund. Das sieht auch Veit Hagenmeyer vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Eggenstein-Leopoldshafen so: "Die Ergebnisse sind auf Basis der Annahmen sehr vernünftig und plausibel".
Im Gegensatz zur ersten Analyse nehme der zweite Stresstest die wesentlichen Risiken auf, die in Bezug auf die Sicherheit der Stromversorgung relevant seien, sagt Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: "Die Wechselwirkungen mit dem europäischen Ausland sind hier wichtig, vor allem der Status der Kernkraftwerke in Frankreich."
Die Empfehlung, die beiden süddeutschen Kernkraftwerke in den Reservebetrieb zu überführen, sei nicht überraschend und leite sich aus den Versorgungsrisiken vor Ort ab, insbesondere aus der schleppenden Umsetzung der Energiewende, urteilt Fischedick: "Beispielhaft dafür steht der geringe Ausbau der Windenergie in Bayern und die massiven Widerstände gegen den Ausbau adäquater Stromleitungen."
Im Norden besser Ölkraftwerke als AKW Emsland
Laut Habecks Ministerium gebe es in Norddeutschland die Möglichkeit, weniger risikoreiche Instrumente als Atomkraft einzusetzen, daher müsse das AKW Emsland nicht als Reserve vorgehalten werden. Dort könnten kurzfristig zusätzliche Ölkraftwerke in Form von Kraftwerksschiffen sogenannten "Power-Barges" eingesetzt werden. Diese stünden für Isar 2 und Neckarwestheim nicht zur Verfügung.
Habeck komme mit den Maßnahmen inklusive der begrenzten AKW-Einsatzreserve seiner besonderen Verantwortung der Versorgungssicherheit Deutschlands im kommenden Winter sehr kompetent nach, findet Veit Hagemeyer.
Kritik: Aufwand für sehr seltenes "worst-case"-Szenario sehr hoch
Den Reserveeinsatz kritisch sieht hingegen Eva Hauser, Forschungskoordinatorin am Institut für Zukunftsenergiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (IZES) in Saarbrücken. "Der Reservebetrieb wirft sehr viele Fragen auf", sagt sie. Neben rein technischen Fragen wie schnell etwa die Reserve-AKW einsatzbereit sein können und Fragen zur juristischen Genehmigung stehe der Aufwand für den Reserveeinsatz der AKW in keinem guten Verhältnis zur sehr geringen Anzahl an "really-worst-case-Stunden", in denen die Kraftwerke wirklich gebraucht werden könnten. "Diese Entscheidung erscheint zumindest heikel", sagt Hauser.
Der Vorschlag von Eva Hauser wäre, in den wenigen kritischen Stunden mehr Strom zu sparen: "Viele Stromverbrauchende aus Industrie, Gewerbe oder den Haushalten besitzen planbare Lastverschiebe- oder gar Abschaltpotenziale, die bei extremen Lastspitzen eingesetzt werden könnten. Hier böte weniger Verbrauch de facto mehr Sicherheit."
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Deutschland wird im Winter mit einem blauen Auge davonkommen
Einig sind sich die Wissenschaftler, dass es gar nicht so weit hätte kommen müssen. "Das System der elektrischen Energieversorgung wurde durch politischen Druck in den letzten Jahren mehr und mehr auf Kante genäht und durch russisches Gas abgesichert", sagt Christian Rehtanz von der TU Dortmund.
Deutschland werde in diesem Winter aber gemäß der Analyse "mit einem blauen Auge" davonkommen: "Wäre die Situation ein paar Jahre später eskaliert, nachdem mehr Kraftwerke endgültig stillgelegt worden wären, hätte sich die Versorgung nicht mehr absichern lassen."
Verwendete Quellen:
- Youtube: Pressekonferenz zur Vorstellung der "Ergebnisse des zweiten Stresstests" mit Bundesminister Habeck
- BMWK: Stresstest zum Stromsystem: BMWK stärkt Vorsorge zur Sicherung der Stromnetz-Stabilität im Winter 22/23
© RiffReporter
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