Übermäßiger Alkoholkonsum oder gar Alkoholsucht gilt gemeinhin als Männerproblem. Warum das nicht so ist und warum das betroffenen Frauen sogar schadet, erklären der Suchtmediziner Falk Kiefer und die Journalistin Nathalie Stüben, die jahrelang selbst starke Trinkerin war und heute sagt: "Ich wusste: Wenn ich anfange zu trinken, kann ich nicht mehr aufhören. Dann passieren Dinge, von denen ich häufig später nicht einmal mehr weiß, dass sie passiert sind."
Ist Alkoholkonsum für Frauen genauso selbstverständlich wie für Männer? Worin unterscheidet sich das weibliche vom männlichen Trinkverhalten und steckt Alkoholismus bei Frauen in einer größeren Tabuzone? In ihrem gemeinsamen Buch "Frauen und Alkohol" klären die Journalistin Nathalie Stüben und der Suchtmediziner Falk Kiefer über Alkoholismus bei Frauen auf.
Frau Stüben, wer oder wie waren Sie damals, wenn Sie getrunken haben?
Nathalie Stüben: Nach außen hin war ich ein Partygirl, das sein Leben ziemlich gut im Griff hatte. Ich habe mein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, war auf einer der renommiertesten Journalistenschulen des Landes, habe für die besten Medienhäuser des Landes gearbeitet, hatte einen tollen Freundeskreis und habe immer gute Arbeit abgeliefert. Saß ich abends an meinem Laptop, stand ein Glas Weißwein neben mir. In diesem Moment war ich, so habe ich es zumindest nach außen hin verkauft, die weibliche Form von Hemingway. Wenn ich dann mit meinen Mädels durch die Münchner Clubs gezogen bin, war ich diejenige, die es richtig hat krachen lassen. Dabei sah es in mir drinnen ganz anders aus: Es hat sich angefühlt, als würde ich innerlich sterben.
Zur Person
- Nathalie Stüben ist Journalistin und lebt seit 2016 nüchtern. Sie gilt als eine der Begründerinnen der deutschsprachigen Nüchternheitsbewegung. Bekannt wurde sie durch ihren Podcast "Ohne Alkohol mit Nathalie", in dem sie offen über Alkoholprobleme spricht.
Können Sie diese Gefühlslage genauer beschreiben?
Stüben: Auf der einen Seite war ich total abgestumpft und habe kaum noch etwas empfunden. Beim Lesen der Weltnachrichten etwa habe ich nichts mehr gefühlt, das war früher anders. Auf der anderen Seite gab es Momente, in denen meine Gefühlswelt vollkommen außer Kontrolle geriet. Ich erinnere mich beispielsweise an einen verkaterten Tag, als mein Bruder zu Besuch war und abreiste. Da bin ich in Tränen ausgebrochen, habe stundenlang geweint, wo ich heute ein Tränchen verdrücke und gut ist.
Diese Situation zeigt, in welchen Extremen ich mich damals bewegte: Entweder habe ich gar nichts gefühlt oder wurde von meinen Emotionen überrollt. Hinzu kam diese permanente Bedrohung, die ich mit mir umhertrug. Denn ich wusste: Wenn ich anfange zu trinken, kann ich nicht mehr aufhören. Dann passieren Dinge, von denen ich häufig später nicht einmal mehr weiß, dass sie passiert sind. Und dazu gesellte sich der Druck, nach außen so zu tun, als sei alles in Ordnung. Die Fassade zu wahren und dahinter die Scherben zusammenzukehren.
Wie meinen Sie das?
Stüben: Wenn ich verkatert aufgewacht bin, habe ich zuerst gecheckt, in welchem Bett ich lag, wen ich betrunken angerufen, was ich auf Facebook gepostet, wem ich irgendwelche WhatsApp-Nachrichten geschickt habe. Hinzu kam die Herausforderung, bei der Arbeit einigermaßen aufgeräumt aufzutauchen, obwohl ich eigentlich den Kater des Todes hatte. Ich habe meine Sucht gewissermaßen gemanagt, sodass sie nicht auffällt – und das ist unfassbar anstrengend.
Gab es einen bestimmten Schlüsselmoment, der Sie dazu bewogen hat, mit dem Trinken aufzuhören?
Stüben: Im letzten Jahr meiner Sucht wurde mir bewusst, dass das mit mir und dem Alkohol nicht funktioniert. Trotzdem hätte ich mich damals nicht als abhängig beschrieben. Abhängigkeit bedeutete für mich, zitternde Hände zu haben und bereits morgens trinken zu müssen. Aber alle Trinkregeln, die ich mir selbst aufgestellt habe, habe ich immer wieder gebrochen. Da wurde mir klar, dass es auf Dauer nicht funktionieren wird, Alkohol in mein Leben zu integrieren.
Mein Wendepunkt kam dann im Juli vor neun Jahren: Wieder einmal bin ich morgens mit einem nackten Mann, den ich nicht kannte, aufgewacht. Wieder einmal hatte ich Hämatome am Körper, einen Filmriss und Kopfschmerzen. Und obwohl dieser Morgen nicht besonders außergewöhnlich war, wusste ich, dass es so nicht weitergehen kann. Mir ging es so schlecht, dass ich bereit war, mit dem Trinken aufzuhören, um endlich wieder leben zu können.
Heute sind Sie seit fast neun Jahren nüchtern und gelten als Wegbereiterin der deutschsprachigen Nüchternheitsbewegung. Gemeinsam mit Falk Kiefer haben Sie ein Buch geschrieben: "Frauen und Alkohol". Warum adressieren Sie ganz konkret Frauen?
Falk Kiefer: Weil das Thema Alkohol bei Frauen sowohl im therapeutischen Alltag als auch in der Forschung viel zu wenig Platz einnimmt. Der Stereotyp einer alkoholkranken Person ist der Mann zwischen 40 und 60, der immer schon zu viel getrunken hat und bei dem irgendwann die Leber schlapp macht. In der klinischen Versorgung werden mehr als zwei Drittel der Alkoholentzugsplätze von Männern belegt, weswegen auch das therapeutische Angebot auf Männer ausgerichtet ist. Doch das entspricht nicht mehr der Realität. Junge Frauen unter 20 etwa trinken inzwischen genauso risikoreich wie junge Männer und erleben entsprechend die gleichen Folgen des Alkoholkonsums. Mit Blick auf Suchthilfesysteme müssen wir uns also darauf einstellen, dass wir in Zukunft genauso viele Frauen wie Männer versorgen müssen.
Da inzwischen viele junge Frauen von Alkoholismus betroffen sind, habe ich die Hoffnung, dass die Gesellschaft insgesamt mehr bereit ist, das Trinkverhalten generell infrage zu stellen. Denn es war bisher oft sehr einfach, trinkende Männer als "Säufer" zu deklarieren, ohne die Gründe für dieses Verhalten zu hinterfragen. Alkoholsucht ist kein reines Männerproblem, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Genau das wollen wir mit dem Buch zeigen. Es gilt also zu hinterfragen, inwiefern gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Voraussetzungen dazu beitragen, sich durch den Alkohol Schaden zuzufügen.
Zur Person
- Prof. Dr. Falk Kiefer ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, Inhaber des Lehrstuhls für Suchtforschung der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Er gilt als einer der renommiertesten Suchtforscher Deutschlands und beschäftigt sich mit individuellen Faktoren wie Geschlecht, Persönlichkeit, Neurobiologie und sozialem Kontext in der Entstehung und Behandlung von Suchterkrankungen.
Unterscheidet sich der Alkoholkonsum von Frauen von dem von Männern?
Kiefer: Grundsätzlich trinken junge Menschen, weil Alkohol verfügbar ist und weil andere Menschen es ebenso tun. Probieren Jugendliche Alkohol aus, stellen sie fest, lockerer und ungehemmter zu werden, auch weniger ängstlich und entspannter. Je mehr dann die niedrigschwellige Verfügbarkeit von Alkohol und eine positive Rückmeldung aus dem Umfeld aufeinandertreffen, desto wahrscheinlicher findet erneuter bis regelmäßiger Alkoholkonsum statt. Schaut man sich die Gründe, warum Menschen Alkohol trinken, genauer an, steht bei den Männern eindeutig die soziale Interaktion im Vordergrund. Die spielt auch bei den Frauen eine Rolle, aber keine derart eindeutige. Viele Frauen trinken auch, um Stress, Ängste und depressive Symptome zu betäubt.
Wie verhält sich der durchschnittliche trinkende Mann im Vergleich zur trinkenden Frau?
Kiefer: Alkohol hat zunächst einmal eine enthemmende Funktion, was das Abwägen von Konsequenzen des eigenen Verhaltens betäubt. Bei Männern zeigt sich in diesem Zusammenhang manchmal ein höheres Aggressionsniveau, was zu Gefährdungen im direkten Umfeld führen kann. Auch Frauen können durch Alkohol aggressiv werden, in der Regel passiert das aber seltener oder mit geringeren Konsequenzen. Hinzu kommt, dass Alkohol auch hilflos macht und neben dem Kontrollverlust sogar zu Blackouts führen kann. Hilflose Frauen sind in unserer Gesellschaft leider oft mehr gefährdet als hilflose Männer. Somit sprechen wir von einer höheren Verletzlichkeit bei Frauen.
Lesen Sie auch
Stüben: Die Künstlerin Kim Hoss hat mir kürzlich im Rahmen einer Podcast-Aufnahme gesagt, Alkohol habe sie schon sehr oft vergewaltigt. Und ich konnte so fühlen, was sie damit meinte. Ich hatte derart betäubt auch oft Sex, den ich nicht wollte. Aber ich war eben nicht mehr in der Lage dazu, nein zu sagen, meine Grenzen zu wahren und klar zu kommunizieren. Auf eine absurde Art und Weise schien der Sex also einvernehmlich zu sein – und doch war er es eigentlich nicht.
Dennoch haben Sie es über einen langen Zeitraum geschafft, im Job und Alltag zu performen …
Stüben: Das habe ich, ja. Ziemlich viele Menschen mit Alkoholproblem performen ziemlich lange ziemlich gut, zumindest in den Bereichen, die unsere Gesellschaft honoriert. Da leiden erstmal andere Dinge. Bei mir waren das meine Selbstachtung und mein Selbstwert. Aber vor allem auch meine privaten und familiären Beziehungen. Also ich habe die Menschen, die mich kennen und lieben, von mir ferngehalten, weil sie mein Problem sonst entlarvt hätten. Mein Privatleben lag zuletzt in Trümmern. Lediglich meine beruflichen Leistungen konnte ich aufrechterhalten, weil ich unbewusst verstanden hatte, dass die Gesellschaft, in der wir leben, über problematischen Alkoholkonsum hinwegsieht, wenn man im Job Leistung bringt.
Frei nach dem alten Sprichwort "Wer saufen kann, kann auch arbeiten" …
Stüben: So ist es. Mit diesem Motto habe ich mich lange identifizieren können. Schlussendlich aber wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch mein Arbeitsleben merklich unter meinem Alkoholproblem gelitten hätte. Sucht bewegt sich ja auf einem Spektrum, greift nach und nach um sich, zieht mehr und mehr Bereiche mit sich.
Hat sich das Trinkverhalten von Frauen im Lauf der Generationen verändert?
Kiefer: Das Bewusstsein hat sich verändert. Viele Menschen wissen inzwischen, dass Alkoholkonsum schädliche Konsequenzen hat – auch weit unterhalb der Schwelle eines schwer abhängigen Konsums. Dementsprechend verzichtet ein Teil der jungen Generation auf Alkohol oder trinkt bewusst wenig. Dieses Mindset rund um den Gesundheitsaspekt gab es bei der älteren Generation in ihrer Jugendzeit kaum. Dennoch hat auf der anderen Seite gleichzeitig eine Normalisierung rund um Alkoholkonsum stattgefunden: Auch Frauen lernen natürlich die enthemmenden und entspannenden Effekte von Alkohol kennen, wenn sie anfangen zu trinken.
Entsprechend hat eine Angleichung des männlichen und weiblichen Alkoholgebrauchs stattgefunden. Diese Angleichung gab es in den älteren Generationen noch nicht, weil weibliches Trinken oft eher als problematisch und als Ausdruck einer Störung gesehen wurde. Während bei Frauen also starker Alkoholkonsum oft Ausdruck eines gestörten Sozialverhaltens gesehen wurde, wurde Vieltrinken bei Männern als normal betrachtet. Aufgrund dieser Stigmatisierung haben sie oft eher weniger und wenn im Verborgenen getrunken. Das Hineinrutschen in die Sucht für Frauen in vergangenen Generationen war dadurch seltener, auch wenn der heimliche Konsum mit zusätzlichen Risiken einhergeht.
Steckt Alkoholismus bei Frauen aufgrund dieser Stigmatisierung auch heute noch in einer größeren Tabuzone als bei Männern?
Kiefer: Meiner Meinung nach ja. Dadurch, dass der weibliche Alkoholkonsum immer noch etwas mehr pathologisiert wird als der männliche, ist die Scham und Schuld, selbst betroffen zu sein, entsprechend größer. Während Männer sich beim Trinken häufig in guter Gesellschaft fühlen und sich gegenseitig vergleichen, wer wie viel verträgt, findet dieses Verhalten bei Frauen eher doch etwas seltener statt. Bei ihnen ist das Problem oft schambesetzter.
Stüben: Ich habe mich damals sehr dafür geschämt, ein Alkoholproblem entwickelt zu haben. Ich dachte, es sei meine Schuld, abhängig geworden zu sein. Von der ersten Idee zu meinem Podcast "Ohne Alkohol mit Nathalie" bis zum Start hat es drei Jahre gedauert. So lange habe ich daran gearbeitet, meine Scham zu überwinden und mich zeigen zu können.
Die Scham spielt also eine große Rolle …
Stüben: Ja. Scham führt dazu, dass sich Leid und Krankheit verlängern, weil sie einen lange davon abhält, sich Hilfe zu suchen. Vor diesem Hintergrund habe ich meinen Podcast, meinen YouTube-Kanal und auch meine Online-Programme ins Leben gerufen. All diese Angebote senken die Schwelle, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und etwas zu verändern. Weil sie anonym und leicht zugänglich sind. Ich kenne ja das Gefühl, nirgendwo hingehen zu wollen. Online zu starten, ist eine schöne Möglichkeit, früher zu starten.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.