Jede vierte Frau in Deutschland ist in ihrem Leben einmal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen haben wir mit Asha Hedayati gesprochen. Wie die Berliner Familienrechtsanwältin einordnet, wird Gewalt gegen Frauen vom Staat nicht nur zu wenig bekämpft. Vielmehr begünstigt das System, in dem wir leben, diese Gewalt.

Ein Interview

Frau Hedayati, fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland – getötet von ihrem Partner oder Ex-Partner. Jede vierte Frau ist in ihrem Leben einmal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Wie kommt es zu diesen verstörenden Zahlen mit Blick auf Partnerschaftsgewalt?

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Asha Hedayati: Gewalt gegen Frauen ist leider ein Teil unserer Normalität geworden. Dabei ist ein gewaltfreies Leben ein Menschenrecht und darf nicht utopisch sein. Meiner Meinung nach haben wir viel zu lange die Problematik auf einer individuellen Ebene betrachtet und Gewalt gegen Frauen als Einzelfälle gewertet. Dabei geht es bei Gewalt gegen Frauen um ein strukturelles Problem – indem dieser strukturelle Hintergrund nicht benannt wird, kann auch keine gesamtgesellschaftliche Lösung gefunden werden.

Frauen geraten schnell in Abhängigkeit

Worin liegen die strukturellen Ursachen für Gewalt gegen Frauen?

Die Hintergründe sind komplex und bestehen aus vielen verschiedenen Ebenen. Somit kann das Problem auch nicht einem alleinigen Ministerium zugetragen werden. Das Familienministerium allein kann das Problem nicht lösen. Vielmehr braucht es eine ressortübergreifende Lösung. Wir leben in einem Land mit Strukturen, die Gewalt nicht nur nicht verhindern, sondern auch begünstigen. Indem Frauen in einer Partnerschaft die hauptsächliche und unbezahlte Fürsorgearbeit übernehmen, geraten sie in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem Partner.

"Die Betroffenen stehen gewissermaßen vor der Wahl: Armut oder Gewalt."

Eine Abhängigkeit, die eine Trennung aus einer gewaltvollen Beziehung entsprechend schwierig gestaltet …

Ganz genau. Die Betroffenen stehen gewissermaßen vor der Wahl: Armut oder Gewalt. Hinzu kommt der hoch eskalierte Wohnungsmarkt, der die Wohnungssuche massiv erschwert. Die Frauen sind also praktisch gezwungen, mit ihren gewalttätigen Partnern in derselben Wohnung zu leben, weil es kaum bezahlbaren Wohnraum gibt und sie sich diesen nicht leisten können. Wenn Betroffene es dann mit Mühe und Not schaffen, sich zu trennen, kommen die Institutionen, wie Jugendämter, Familiengerichte oder auch die Polizei, ins Spiel. Diese Institutionen schützen die Frauen häufig nicht richtig, weil sie sie nicht ernst nehmen. Währenddessen muss der Ex-Partner und Vater der Kinder häufig weder Täterarbeit leisten noch Kurse besuchen, an sich arbeiten und Verantwortung übernehmen. Diese permanente Verantwortungsverschiebung ist ein immenses Problem.

Gewalt

Studie: Ein Drittel der jungen Männer findet Gewalt gegen Frauen akzeptabel

Laut einer Studie der Hilfsorganisation Plan International Deutschland, aus der die Zeitungen der Funke-Mediengruppe zitieren, billigt rund ein Drittel der 18- bis 35-jährigen Männer in Deutschland Gewalt gegen Frauen. Experten zeigen sich besorgt. (Foto: picture alliance / PHOTOPQR/L'EST REPUBLICAIN/MAXPP/Lionel VADAM)

Wo zeigt sich diese Verantwortungsverschiebung noch?

Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt immer auf dem Verhalten der Frau, der Mutter, des Mädchens. Sie sollen ihr Verhalten so anpassen, um keine Gewalt zu erfahren. Statt zu beleuchten, warum ein Mann Gewalt ausübt und der Staat es nicht schafft, diese Gewalt zu beenden, wird auf das weibliche Opfer geblickt. Dieses Problem zeigt sich beispielsweise darin, dass Opfer sexualisierter Gewalt gefragt werden, welche Kleidung sie bei dem Übergriff getragen haben. Hier sprechen wir von klarer Täter-Opfer-Umkehr. Ich denke auch an familiengerichtliche Verfahren, in denen die Frau etwa gefragt wird, warum sie mit dem gewaltvollen Partner noch ein weiteres Kind bekommen hat, warum sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hat und warum sie ihr Kind nicht vor dem gewaltvollen Ex-Partner schützt. Will sie aber das Kind schützen und trennt sich, muss sie sich der Frage stellen, warum sie dem Kind den Umgang mit dem Vater verwehrt.

Geht die Gewalt gegen Frauen also in Form von institutioneller Gewalt weiter?

Ja. Wenn wir über familiengerichtliche Verfahren sprechen, wird die Nachtrennungsgewalt des Ex-Partners häufig durch die Verfahren weiter befeuert. Wenn wir über Täter-Opfer-Umkehr bei der Polizei oder anderen staatlichen Institutionen sprechen, ist es häufig so, dass die Betroffenen nicht ernst genommen werden. Sowohl bei staatlichen Institutionen als auch bei der Gesellschaft insgesamt blicken wir auf sehr wirkmächtige misogyne Mythen, wie zum Beispiel die lügende Frau. Die Frau, die sich rächen will. Die Frau, die ihre Kinder instrumentalisiert oder manipuliert, um ihrem Ex-Partner zu schaden. All das sind sehr wirkmächtige Narrative. Insofern ist es falsch, davon auszugehen, dass diese Institutionen neutral oder unabhängig seien. Hier kommt auch die Unschuldsvermutung mit ins Spiel: Diese ist ein wichtiges Instrument in einem Strafverfahren. Aber die Unschuldsvermutung gilt offenbar nicht für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Vielmehr gelten die Frauen dann als Person, die sich wichtig machen wollen.

Ein Narrativ, aus dem sich die Frauen nur schwer befreien können …

Richtig. Schnell greift das Narrativ, dass die Frau immer lüge und nur mehr Aufmerksamkeit für sich wolle. Das ist vollkommen absurd. Keine Frau hat etwas davon, sich so etwas auszudenken. Stattdessen wird sie zerstört, wenn sie öffentlich über die erfahrene Gewalt spricht.

Das System begünstigt Gewalt gegen Frauen

Begünstigt also das System, in dem wir leben, Gewalt gegen Frauen?

Ja, weil es für die Betroffenen so schwierig ist, aus der gewaltvollen Beziehung herauszukommen. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Widerstandskraft und Resilienz der Betroffenen eine große Rolle spielt. Natürlich feiern wir einen Menschen, der den Weg aus einer gewaltvollen Beziehung geschafft hat. Gleichzeitig macht es aber wütend, dass eine Betroffene erst diese Kraft aufbringen muss, um sich aus einer Gewaltbeziehung zu befreien.

"Wenn Frauen Emotionen zeigen, gelten sie oft als hysterisch und übertrieben."

Femizide werden häufig mit den Attributen "Verbrechen aus Leidenschaft" oder "Eifersuchtstragödie" betitelt – hier werden Gewalttaten auf Gefühle reduziert. Inwiefern ist das problematisch?

Wenn Frauen Emotionen zeigen, gelten sie oft als hysterisch und übertrieben. In der Folge werden sie meistens nicht mehr ernst genommen. Bei Männern hingegen rechtfertigen Emotionen Taten, während Frauen für Emotionen verurteilt werden. Das ist dramatisch, denn wenn wir von der "Verzweiflungstat" oder einem "Eifersuchtsdrama" sprechen, nehmen wir den Täter aus der Verantwortung. Wir bagatellisieren und verharmlosen die Tat und rechtfertigen sie. Darüber hinaus erweckt eine solche Wahrnehmung den Eindruck, es hätte zwei ebenbürtige Seiten und ein Gleichgewicht zwischen Mann und Frau gegeben. Als hätte die Betroffene eine Mitverantwortung daran, dass sie getötet wurde. Das ist fatal.

Kürzlich ist Ihr Buch "Die stille Gewalt" erschienen. Erklären Sie uns bitte, was hinter der stillen Gewalt steckt.

Mit der stillen Gewalt meine ich nicht die Gewalt des Ex-Partners oder Partners, weil sie nicht still ist. Wenn wir als Gesellschaft genau hinhören würden, würden wir sie sehr laut hören. Was hingegen still ist, sind die strukturellen Widerstände, die dazu führen, dass eine Frau auf dem Weg aus der Gewaltbeziehung alleingelassen wird. Auch die strukturellen Begebenheiten, die dazu führen, dass Gewalt begünstigt wird, sind still. Damit meine ich misogyne Mythen, Täter-Opfer-Umkehr, die permanente Verantwortungsverschiebung oder auch das wirtschaftliche Ungleichgewicht, das geschaffen wird. Gewalt gegen Frauen ist ein Ausdruck von Macht und Abhängigkeitsverhältnissen, die strukturell begründet sind. Das ist die stille Gewalt.

Diese strukturellen Begebenheiten benennen Sie mit dem Untertitel "Wie der Staat Frauen alleinlässt" sehr deutlich. Inwiefern lässt der Staat Betroffene allein?

Wir leben in einem gleichberechtigten Land, das steht in Artikel 3 des Grundgesetzes. In der Theorie mag das stimmen. Aber echte Gleichstellung ist die Summe aller sichtbaren und unsichtbaren Normen – und an diesem Punkt sind wir noch lange nicht angekommen. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass Fürsorgearbeit unbezahlt und ungerecht aufgeteilt ist. Auch ein Blick auf die Zahlen macht es deutlich: 43 Prozent der Alleinerziehenden sind von Armut betroffen, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das bedeutet: Eine Frau, die sich trennt, entscheidet sich häufig für ein Leben in Armut. Wir müssen auch über Altersarmut sprechen: Jede dritte, in Vollzeit beschäftigte Frau wird in Deutschland mit der Rente unter 1.000 Euro erhalten. Ich frage mich: Was macht es mit einer Person in einer Partnerschaft, zu wissen, immer wirtschaftlich abhängig von einem gewaltvollen Partner zu sein? Dabei leben wir in einem Land mit der viertgrößten Wirtschaftsleistung weltweit, dennoch lebt jedes fünfte Kind in Armut. Das ist strukturelle Gewalt, die still und leise wirkt.

Über die Gesprächspartnerin

  • Asha Hedayati ist Familienrechtsanwältin und Dozentin für Familienrecht und Kinder- und Jugendhilferecht. Im Herbst ist ihr Buch "Die stille Gewalt – wie der Staat Frauen alleinlässt" erschienen.

Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" – 08000/116 016 oder dessen Online-Beratung, das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" - 0800/1239900 oder dessen Online-Beratung, oder an das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" 0800/225 5530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01/3340 437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031/3131 400 (Schweiz).

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