Immer wieder sorgt das Verhalten von Schaulustigen bei Unfällen für Empörung und Entsetzen: Warum sehen Menschen weg, wenn Hilfe vonnöten ist – oder machen sogar noch Fotos von Verunglückten? Ein Experte erklärt das Gaffer-Phänomen.
Herr Prof. Walschburger, Gaffer verursachen nicht nur Verkehrsstaus, sondern fotografieren auch hilflose Menschen in äußerst intimen Situationen und behindern mitunter sogar Rettungskräfte. Wie kommt es zu solch einem rücksichtlosen Verhalten?
Prof. Walschburger*: Ich verstehe die Empörung über solche Verhaltensweisen sehr gut. Trotzdem ist mir als Wissenschaftler der Begriff Gaffer zu moralisch abwertend – ich würde lieber von Schaulust sprechen.
Reduzieren Sie damit nicht das Phänomen auf das Hinschauen?
Als Erfahrungswissenschaftler möchte ich zunächst einmal die "funktionalen" Bedingungen analysieren, unter denen Schaulust entsteht: Das aufmerksame Hinschauen auf Umweltereignisse, die für uns wichtig sein könnten, beruht ja auf einem uralten Verhalten, das uns Menschen im Lauf der Evolution Überlebensvorteile verschafft hat.
Warum ist Hinschauen von Vorteil?
Wir Menschen haben Jahrmillionen in kleinen Gruppen gelebt, in denen jeder jeden gut kannte. In diesen Gruppen haben wir eine hohe Kooperations- und Hilfsbereitschaft entwickelt.
Wenn jemand Hilfe brauchte, hat man hingesehen und geholfen; und man durfte erwarten, dass der vertraute Partner ebenfalls hilft, wenn man selbst am Boden lag. Das war Hinschauen im Sinne von: sich kümmern.
Wir sprechen also von der sozialen Komponente des Hinschauens. Warum schauen heute viele hin und helfen trotzdem nicht, sondern fotografieren stattdessen?
Auch hier müssen wir differenzieren. Dieses Verhalten besteht aus zwei Komponenten: Dem Nicht-Helfen und dem Fotografieren oder Filmen. Nicht zu helfen haben die Menschen durch das anonyme Zusammenleben in größeren Gruppen gelernt, wie wir es vor allem von städtischen Lebensformen kennen.
Wo Menschen mit einer überschaubaren Zahl persönlich bekannter, vertrauter Sozialpartner zusammenleben, da fühlen sie sich auch verantwortlich für die anderen. Das steckt als evolutionäres Erbe in unseren Genen. Heute ähnelt das kleine Dorf auf dem "platten Land" noch am ehesten der Stammesgesellschaft unserer prähistorischen Vorfahren.
Und in der Stadt sind uns die Mitmenschen egal?
Nein, es ist nicht so, dass die Menschen in den Städten einen niedrigeren sozialen Standard haben. Aber hier haben wir uns daran gewöhnt, auf viele fremde Menschen zu treffen, die nichts mit uns zu tun haben.
Die Mehrzahl der Schaulustigen bleibt deshalb passiv und geht davon aus, dass sich die anderen schon kümmern werden oder bereits gekümmert haben, dass es Institutionen wie die Polizei und den Notarzt gibt, die dann schon kommen werden.
Aber manche Menschen helfen ja nach wie vor – auch in der Stadt.
Richtig. Bei unterschiedlichen Personen ist mitfühlendes soziales Handeln, das zur Hilfe motiviert, unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir Menschen sind aber besonders soziale Wesen. Intuitiv verhalten wir uns meist nur dort, wo wir vertrauten Mitmenschen begegnen.
Kommen wir zurück zum zweiten Aspekt des Gaffens: Wieso fotografieren oder filmen manche Menschen in solchen Situationen?
Hier kommt die Verfügbarkeit effizienter Techniken des Fotografierens und der bildlichen Kommunikation hinzu. Ein weiterer Grund liegt aber wiederum in unserer Evolution: Menschen gruseln sich gerne.
Aus der Biopsychologie wissen wir, dass das Schreckliche uns mächtig anziehen kann, wenn wir die ängstigende Aufregung aus einer sicheren Beobachter-Perspektive verfolgen. Dann wird uns schnell klar: Ich bin nicht in Gefahr, mir kann ja gar nichts passieren. Übrig bleibt das erregende Lustgefühl der überstandenen Gefahr.
Wir müssen auch das große Geltungsbedürfnis vieler Menschen in modernen sozialen Gruppen berücksichtigen. Man fotografiert nicht nur, sondern präsentiert seine Beute im Internet, auf Facebook oder bei Instagram. Alle sollen sehen, was man Tolles erlebt hat. Viele Menschen scheinen unter solchen Bedingungen einem kollektiven Empathieverlust zu erliegen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.