Die meisten Menschen verbinden mit Narzissmus erst einmal etwas Negatives: Narzisstinnen und Narzissten gelten als besonders selbstbezogen und streben nach Bewunderung. Sie haben aber auch große Stärken, weiß Mitja Back, Persönlichkeitspsychologe und Autor von "Ich! Die Kraft des Narzissmus" (Kösel Verlag). Im Interview spricht er über die veraltete Sicht auf Narzissmus, wie er sich bei Frauen und Männern unterscheidet und wieso es Narzissten oft weit bringen.
Herr Back, was genau ist unter Narzissmus zu verstehen?
Mitja Back: Narzissmus ist keine Krankheit, sondern eine Persönlichkeitseigenschaft, die mehr oder weniger stark in uns allen ausgeprägt ist. Der Narzissmus lässt sich vor allem an drei Bausteinen festmachen: Grandiosität, Anspruchsdenken und Streben nach sozialer Bewunderung. Narzissten sind Menschen, die stärker als die meisten anderen denken, dass sie etwas ganz Besonderes sind, mehr als andere verdient haben und von anderen Menschen bewundert werden wollen.
Verhalten sich Männer oder Frauen häufiger narzisstisch?
Auch wenn uns beim Thema Narzissmus meist eher Männer auffallen, sind Männer im Durchschnitt nur einen Tick narzisstischer. Und auch die Art und Weise, wie der Narzissmus ausgelebt wird, unterscheidet sich nur wenig: Männer streben im Mittel eher nach Bewunderung in der Karriere und zeigen etwas offener die narzisstischen Ellbogen, wenn es nicht so rund läuft.
Frauen lassen sich etwas häufiger für ihre einmalige Selbstlosigkeit und ihr Aussehen bewundern und sind etwas subtiler in ihrer narzisstischen Aggressivität. Die Unterschiede sind aber klein. Das Geschlecht sagt uns generell nur sehr wenig über den Narzissmus eines Menschen: Innerhalb aller Geschlechter finden wir die gesamte Bandbreite von sehr wenig bis sehr stark narzisstisch und alle möglichen Arten, den Narzissmus auszuleben.
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Was sind die häufigsten Ursachen für Narzissmus?
Narzissmus ist wie die meisten Persönlichkeitseigenschaften sowohl genetisch als auch durch Umwelterfahrungen beeinflusst. Studien sprechen dafür, dass mindestens 50 Prozent der Unterschiede im Narzissmus genetisch verankert sind - ein wichtiger Fakt, der häufig übersehen wird.
Was die Umwelterfahrungen angeht, reden wir beim Thema Narzissmus erstaunlicherweise fast ausschließlich über die elterliche Erziehung, meistens verbunden mit der alten psychoanalytischen Idee, dass eine kalte oder sogar traumatisierende Erziehung zu Narzissmus führt, weil sie eine innere Schwäche und Leere im Kind erzeugt, die dann durch ein narzisstisches Theater überspielt werden muss. Für diesen beliebten "Masken-Mythos" spricht wissenschaftlich wenig. Kalte Erziehung führt eher nicht zu Narzissmus. Wenn überhaupt, dann wird Narzissmus gefördert, wenn Eltern ihr Kind übermäßig in den Himmel loben.
Noch viel wichtiger allerdings: Die elterliche Erziehung spielt insgesamt gar nicht so eine große Rolle. Der Einfluss der Eltern läuft primär über die Genetik. Andere Umwelterfahrungen sollten viel stärker in den Blick genommen werden, wenn wir die Entwicklung von Narzissmus verstehen wollen, zum Beispiel Erfahrungen im Kindergarten und in der Schule, im Freundeskreis, in Liebesbeziehungen und im Job.
Welche Schwächen haben narzisstische Menschen?
Sie erzeugen durch ihr egoistisches Verhalten und ihre aggressive Art, auf Kritik zu reagieren, auch jede Menge Probleme in Beziehungen, vor allem langfristig. Als Führungskraft riskieren sie oft zu viel, lassen zu wenig alternative Meinungen zu und können durch ihre übermäßig hohen Erwartungen und ihre harte Art, Kritik zu äußern, sehr viel Druck und Stress erzeugen.
Und welche Stärken bringen Narzisstinnen und Narzissten mit?
Das Besondere am Narzissmus ist die damit verbundene Kraft. Diese unbändige Energie, mit der Narzisstinnen und Narzissten vieles bewirken - im Guten, wie im Schlechten. Narzissten sind wie kaum andere Menschen in der Lage, zu erschaffen und zu zerstören. Sie zeigen Charme, Selbstbewusstsein und Initiative beim Kennenlernen. So brechen sie das Eis und schaffen Begeisterung in Dates, Freunden, Personalern, Mitarbeitenden und Wählern. Sie bringen auch Aufregung und Spannung in Beziehungen.
Narzissten haben meist hohe Ziele, sind optimistisch, haben Selbstvertrauen und sind durchsetzungsstark, auch wenn es Widerstände gibt. Dadurch kommen sie persönlich häufig schneller voran, können aber auch Teams und Unternehmen zum Aufstieg verhelfen. Sie mögen Neues und sind risikobereiter, wodurch sie häufiger Innovationen anstoßen.
Narzissten können also Gutes bewirken.
Wie positiv oder negativ Narzissmus wirkt, hat immer mit den weiteren Eigenschaften, die Narzissten mitbringen und dem Kontext, in dem sie sich befinden, zu tun. Intelligente Narzissten mit moralisch von vielen Menschen geteilten Zielen können zum Beispiel Besseres bewirken, als solche, die mit halbgaren Ideen Konflikte zwischen Gruppen anheizen. Und Narzissmus bringt mehr, wenn Risikobereitschaft und Veränderungen angezeigt sind und weniger, wenn es gerade wichtig ist, abzusichern und zu stabilisieren.
Ab wann gilt man als Narzisstin oder Narzisst?
Wir alle verhalten uns hin und wieder narzisstisch. Ein Narzisst oder eine Narzisstin sind wir dann, wenn wir dies deutlich häufiger und stärker tun als andere. Und auch dann heißt das nicht, dass wir ein schlechterer Mensch sind. Narzissmus ist eine von vielen menschlichen Strategien, um mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Und wie jede Lebensstrategie hat sie Vor- und Nachteile.
Zur Person:
- Mitja Back ist Persönlichkeitspsychologe und Autor von "Ich! Die Kraft des Narzissmus". Außerdem ist er als Professor für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Münster tätig.
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