Familienrichterinnen in Hessen schlagen Alarm: Es gebe immer mehr problematische Familien. Sie nennen mögliche Gründe und sehen dringenden Handlungsbedarf.

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Zunehmende Gewalt und psychische Probleme in Familien: Das führt nach Einschätzung von hessischen Richterinnen dazu, dass immer mehr Kinderschutzverfahren die Justiz beschäftigen.

"In vielen Familien läuft es nicht gut, das sehe ich als massives und wachsendes Problem", warnt Familienrichterin Doris von Werder vom Amtsgericht Wiesbaden. Nach ihrer Beobachtung steige die Zahl verhaltensauffälliger sowie psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Von Werder plädiert dafür, mehr Geld etwa in die Familien- und Jugendhilfe sowie in die Weiterbildung von Erzieherinnen und Lehrern zu investieren. "Ansonsten sehe ich wirklich schwarz."

Die Gesamtzahl der Sorgerechtsverfahren, zu denen auch die Kinderschutzsachen und Inobhutnahmen zählen, sind am Amtsgericht Wiesbaden den Angaben zufolge 2023 im Vergleich zum Vorjahr um knapp zehn Prozent auf 694 Fälle gestiegen. 2014 waren es demnach noch 512 Fälle. Außerdem sind nach den Worten der Richterin die Unterbringungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich gestiegen.

Alkohol, Mediensucht, Gewalt

"Viele Eltern sind wegen eigener instabiler Persönlichkeiten und auch etwa wegen Alkohol- und Drogenproblemen nicht erziehungsgeeignet", erklärt von Werder. "Die Kinder erfahren keine stabilen Beziehungen, aber häufig Gewalt." Die Familienrichterin sieht den teils "ungezügelten Medienkonsum" von Kindern und Jugendlichen problematisch. Es komme vor, dass Kinder deswegen nicht mehr in die Schule gehen.

"Sie haben Gewalt erlebt und tragen das weiter."

Jugendrichterin Claudia Dirlenbach über junge Menschen, die straffällig werden

Nach den Worten der Wiesbadener Jugendrichterin Claudia Dirlenbach spiegelt sich die Zunahme problematischer Familien auch in den Strafsachen wider. "In rund 90 Prozent der Jugendschöffengerichtsverfahren stammen die Angeklagten nicht aus geordneten Familienverhältnissen", berichtet sie. "Sie haben Gewalt erlebt und tragen das weiter." Beim übermäßigen Konsum von Gewaltspielen am Computer verwische teils Fantasie und Realität, sagt Dirlenbach. Teils falle schon bei sehr jungen Täterinnen und Tätern jede Hemmschwelle.

"Ich habe auch den Eindruck, dass wir mehr Kinderschutzfälle haben und sie schwieriger werden", beobachtet die Familienrichterin am Frankfurter Amtsgericht Heidi Fendler. Ganz aktuell habe sie beispielsweise zwei Verfahren auf den Tisch bekommen, in denen Kinder sogar selber darum baten, aus der Familie genommen zu werden. "In beiden Fällen hat es massive häusliche Gewalt gegeben, auch gegen die Kinder."

Was hat Corona angerichtet?

Zu den Schwierigkeiten bei den Kinderschutzfällen zähle, dass sexualisierte Gewalt oft schwer nachweisbar sei, insbesondere bei kleineren Kindern, erläutert Fendler. Zudem sei es gerade bei psychisch kranken Eltern oft eine Gratwanderung zu entscheiden: Sind sie noch erziehungsfähig mit Unterstützung oder nicht? "Wir haben insgesamt den Eindruck, dass psychische Erkrankungen sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern zugenommen haben."

Die Familienrichterin sieht eine mögliche Ursache für die steigenden Fallzahlen in der Corona-Pandemie, als Kinder vereinsamt seien und ihren normalen Alltag mit Schule oder Kindergarten nicht mehr hatten. "Daraus können Schwierigkeiten im sozialen Miteinander entstehen oder auch Depressionen", sagt Fendler. Die Richterin spricht sich dafür aus, Kindergärten und Schulen personell so auszustatten, dass die Erzieherinnen und Lehrer ein gutes Gefühl für die Kinder haben. "Nur dann können auffällige Kinder auch gesehen werden."

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Kinder trauen sich häufiger zu sagen: "Ich werde zu Hause geschlagen"

Fendler betont: "Was wir noch viel mehr bräuchten, sind gute Beratungsstellen etwa für Medienkonsum." Ein riesiges Problem sei auch, dass die Gerichte kaum noch gute therapeutische Einrichtungen fänden, in die Kinder "mit vielen Problemen" geschickt werden könnten. Auch Integrationshelfer würden händeringend gesucht.

Nach Einschätzung von Fendler wird das Thema häusliche Gewalt in der Gesellschaft inzwischen viel ernster genommen als früher. Die steigenden Fallzahlen bei Gericht könnten auch daher rühren, dass das Bewusstsein für solche Fälle gestiegen sei. Kinder trauten sich inzwischen häufiger zu sagen: "Ich werde zu Hause geschlagen" oder "Mein Vater verprügelt meine Mutter".

Die Kolleginnen aus der Familienabteilung des Amtsgerichts im südhessischen Dieburg haben ebenfalls eine Zunahme der Kinderschutzfälle beobachtet, wie ein Gerichtssprecher mitteilt. Dort wird gerade für die vergangenen beiden Jahre eine deutliche Steigerung der Verfahren festgestellt. Über die Ursachen könne keine abschließende Aussage getroffen werden, "ohne in den Bereich der Spekulation zu verfallen". Es könne sich sowohl um eine Steigerung der tatsächlichen Fälle als auch um ein erhöhtes (behördliches) Augenmerk oder eine Mischung beider Faktoren handeln.

Beim Amtsgericht Kassel hat sich die Zahl der neu eingegangenen Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung seit 2018 mehr als verdoppelt und stieg von 115 Fällen jährlich auf 268 Fälle (2023). Zu den möglichen Gründen äußerte sich die Sprecherin nicht. (dpa/af)

Hilfsangebote

  • Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" (116 016 oder online), das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" (0800/1239900 oder online), das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" (0800/225 5530).
  • Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
  • Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Hilfe, häusliche Gewalt: Dieses Handzeichen sollten Sie kennen

Um auf häusliche Gewalt aufmerksam zu machen, können Betroffene mit diesem Handzeichen um Hilfe rufen, ohne dabei ein Wort zu sagen. (Foto: iStock-nadia_bormotova)
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