Das Vergessen hat einen schlechten Ruf. Warum es trotzdem so wichtig ist und wie die Forschung Wege sucht, manche Erinnerungen zu unterdrücken.

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Ach, stimmt, Nudeln sollte ich noch mitbringen, das habe ich glatt vergessen. Wo habe ich bloß das Auto geparkt? Was, der Arzttermin war heute? Und wie hieß eigentlich der Vater von dem Jungen, mit dem unsere Tochter so gerne spielt, weißt' schon, der, mit dem wir da gestern auf dem Spielplatz gequatscht haben?

Egal, ob es sich um Namen, Termine oder Geschehnisse von früher handelt – etwas zu vergessen ist oft unangenehm. Die meisten Menschen würden sich gerne an möglichst viele Dinge erinnern können. Tatsächlich aber ist das Vergessen ein wichtiger kognitiver Prozess, mit dem sich die Forschung in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt hat. Fachleute suchen sogar nach Wegen, wie Menschen besser vergessen können.

Wie vergessen wir?

Wie genau Vergessen funktioniert, dazu existieren im Groben zwei Hypothesen. Eine Theorie lautet: Wir erinnern uns schlechter an länger Vergangenes, weil jene Reize, welche die Erinnerung wachrufen, mit der Zeit seltener auftreten. Die neuronalen Verbindungen im Gehirn werden schwächer, je seltener sie aktiviert werden.

Die zweite Erklärung geht einen Schritt weiter: Vergessen ist demnach ein aktiver Prozess. Einst gespeicherte Erinnerungen werden – mit Aufwand – wieder verlernt. Die immer feiner werdenden neurowissenschaftlichen Methoden und bildgebenden Verfahren haben in den vergangenen Jahren dabei geholfen, insbesondere den zweiten Weg besser zu verstehen.

Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression heißen die Mechanismen, die für das Lernen und Vergessen am relevantesten scheinen. Gehen Gedächtnisinhalte vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis über, scheint der Hippocampus eine zentrale Rolle zu spielen und insbesondere der Prozess der Langzeitpotenzierung: Je häufiger zwei vernetzte Nervenzellen gleichzeitig aktiviert werden, umso besser gelingt die Übertragung zwischen ihnen.

Demgegenüber steht die Langzeitdepression: Werden zwei Nervenzellen, die über eine Synapse verbunden sind, asynchron aktiviert, schwächt das die Verbindung zwischen den beiden Nervenzellen. Je besser die Übertragungswege zwischen den Nervenzellen eines Gedächtnisinhalts vernetzt sind, desto leichter kann er auch abgerufen werden. Langzeitpotenzierung und -depression scheinen zwei zentrale Mechanismen von Lernen und Vergessen zu sein.

Das Vergessen ist genauso wichtig wie das Erinnern

Doch wäre es nicht schön, wenn alle Erinnerungen immer abrufbar blieben? "Es ist schon richtig, dass wir einen hohen Anspruch an unser Gedächtnis haben und versuchen, Fakten über die Welt und andere Menschen, über geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge aktiv zu erinnern", sagt Martin Korte, Professor für Zelluläre Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig. "Wenn man Menschen trifft, die man kennt und deren Namen nicht erinnert, kann einem das als respektlos ausgelegt werden, und wer sich in der Schule nicht an eine Vokabel erinnert, bekommt einen Fehler angestrichen."

Korte hat selbst einige Studien zum Gedächtnis durchgeführt und untersucht, wie Erinnern und Vergessen funktionieren. Er erklärt, warum das Vergessen für ein funktionierendes Gehirn ebenso wichtig ist wie das Erinnern: "Zu vielen Umständen des Lebens haben wir viele Erinnerungen. Die meisten sind in einer konkreten Situation irrelevant und würden das Denken, Reden und Handeln stören", sagt Korte. "Auch um Musik erleben zu können oder Sprache zu verstehen, müssen wir das vorher Gehörte ausblenden, also kurzfristig vergessen, sonst sind Melodien und neue Sätze nicht verstehbar, wenn immer noch der letzte Akkord oder der letzte Satz in unserem Arbeitsgedächtnis verweilt", so Korte.

Darüber hinaus kennt die Forschung weitere Gründe, warum das Vergessen eine recht vorteilhafte Eigenschaft ist. Nur wenn Informationen auch vergessen werden können, ist semantisches und prozedurales Wissen möglich, da das Vergessen Abstraktion und Automatisierung ermöglicht. Es ermöglicht, dass Wissen über die Welt aktuell bleibt und dass wir einst eingenommene Positionen überdenken und ändern können. Und es ist gut für unser Wohlbefinden, weil es negative Erinnerungen, Erfahrungen oder Gefühle abschwächen oder ganz vergessen machen kann.

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Gerade Letzteres gilt für Betroffene einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Erinnerungen an ein traumatisierendes Ereignis suchen sie immer wieder heim, eine immense psychische Belastung. Kleine, mit dem Ereignis verbundene Reize wie ein Geruch oder ein Geräusch können genügen, um sogenannte Flashbacks auszulösen. Als Folge drohen Herzrasen, Panikattacken oder Todesängste.

"Bei der Behandlung von Patienten mit einer PTBS versucht man zu erreichen, dass sie die ungewollte und unbewusste starke Assoziation auf einen Auslösereiz vergessen", sagt Martin Korte. "Nicht aber die Situation, die mit dem Trauma zusammenhängt, soll vergessen werden." Denn diese zu erinnern, könne für zukünftige Handlungen und auch die Rekonstruktion der eigenen Biografie extrem wichtig sein.

"Neue Therapiemethoden zielen darauf ab, die starke Reaktion der Amygdala, einer Art Emotionszentrale des Gehirns, abzustellen, indem man die Patienten in Gedanken die traumatische Situation noch mal erleben lässt und die Stressreaktion des Körpers pharmakologisch blockiert", sagt Korte. "Die Grundlage dazu sind neueste Ergebnisse, die belegen, dass, immer wenn wir etwas erinnern, das Erinnerte mit den aktuellen Gefühlen wieder neu abgespeichert wird." Die Betroffenen lernen so, sich an die traumatisierende Erfahrung zu erinnern, ohne jedoch Stress, Panik oder Schweißausbrüche zu erleben.

Die von Martin Korte beschriebene Herangehensweise dürfte in den Bereich der Gedächtnis-Unterdrückung fallen – zumindest, wenn man sie einer der drei verschiedenen Kategorien willentlicher Vergessenstechniken zuordnen wollte. Die nennen die beiden Neuropsychologen Michael Anderson und Justin Hulbert in ihrer im Annual Review of Psychology erschienenen Übersichtsarbeit zum Thema. Dabei wird das Hervorrufen der zu einem Reiz gehörigen Erinnerung unterdrückt, die Reiz-Erinnerungs-Verbindung wird so schwächer.

Der zweite Weg, die Prozess-Unterdrückung, zielt darauf ab, eine Erinnerung gar nicht erst entstehen zu lassen. Das kann gelingen, indem der Hippocampus in seiner erinnerungsbildenden Arbeit gestört wird. Etwa indem man seine ganzen Ressourcen auf Gedächtnisübungen richtet oder Personen schlicht sagt, sie sollen sich etwas, das sie gerade gesehen haben, nicht merken – Letzteres funktioniert zumindest in Labor-Settings mit Bildern.

Und drittens kann eine Erinnerung auch per Kontext-Unterdrückung vergessen werden, indem man die Reize, die sie hervorrufen, umprogrammiert. Wer etwa bei einem bestimmten Lied immer an den Ex-Partner denkt, der kann dieses Lied mit einem anderen Ereignis zusammenbringen, etwa indem man es immer zum freitäglichen Feierabend abspielt. Hört man es mal zufällig, wird es einem alsbald das wohlige Gefühl eines verdienten Feierabends statt der ungeliebten Liebeserinnerung ins Gedächtnis rufen.

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