Wenn viele Menschen aufeinandertreffen und versuchen sich in die gleiche Richtung zu bewegen, kann es zu einer Massenpanik kommen. Nicht selten kommt es bei Menschengedränge zu Verletzten und Toten. Forscher haben nun eine Methode entwickelt, die das künftig verhindern soll.

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Die Massenpanik in Seoul 2022, die Loveparade-Katastrophe 2010 in Duisburg oder jüngst beim Pilgerfest Kumbh Mela in Indien: Immer wieder kommt es bei großen Menschenansammlungen zu gefährlichen Situationen mit Verletzten und Toten. Nun haben französische und spanische Forscher ein Modell entwickelt, um die Bewegungen solcher Menschenmengen besser vorherzusagen - und gefährliche Situationen so zu vermeiden.

"Dicht gedrängte Menschenmengen gehören zu den gefährlichsten Umgebungen in der modernen Gesellschaft."

Forscherteam

Wie die Wissenschaftler im Fachblatt "Nature" berichten, nutzten sie Aufnahmen von der Eröffnungszeremonie der Sanfermin-Feiern im spanischen Pamplona. Das Fest ist dem Stadtheiligen San Fermín gewidmet und wird in Pamplona seit Ende des 16. Jahrhunderts im Juli gefeiert. Bekannt sind die Feierlichkeiten mit Konzerten, Prozessionen und anderen Veranstaltungen vor allem wegen der Stierrennen. Im vergangenen Jahr nahmen rund anderthalb Millionen Menschen an den Feiern teil.

"Dicht gedrängte Menschenmengen gehören zu den gefährlichsten Umgebungen in der modernen Gesellschaft", schreibt das Team um Denis Bartolo von der École normale supérieure de Lyon (ENS Lyon). Gefahren entstünden durch unkontrollierte kollektive Bewegungen, die zu Verletzungen und Todesfällen führen könnten.

Die Forschungsgruppe verfolgte nun Menschenmassen von schätzungsweise 5.000 Personen während des Festes. Dafür nutzte sie Videoaufnahmen von Eröffnungszeremonien zwischen 2019 und 2024. Die Kameras waren an zwei Stellen auf einem 50 Meter langen und 20 Meter breiten Platz in der Innenstadt angebracht.

Menschenmengen verhalten sich wie eine Flüssigkeit

Die Forscher kombinierten die Aufnahmen mit einem mathematischen Modell: Wie sie schreiben, sind die Menschen so dicht gedrängt, dass die Menge wie eine Flüssigkeit als Kontinuum behandelt werden kann. Ein solches Verständnis werde genutzt, um Strömungsbewegungen zu beschreiben. Dafür wird die Flüssigkeit nicht als Ansammlung einzelner Moleküle betrachtet, sondern als eine mathematisch beschreibbare Masse, in der sich Variablen kontinuierlich ändern.

Bartolos Team beobachtete, dass sich die Dichte der Menschenmenge während der Eröffnungszeremonien von zwei Personen pro Quadratmeter kurz vor Beginn des Festes auf sechs Personen pro Quadratmeter während der Veranstaltung veränderte. Die Dichte der Menge stieg stellenweise auf bis zu neun Personen pro Quadratmeter - ein wichtiger Grenzwert. Denn bei Erreichen dieser Dichte verhielten sich Gruppen von mehreren hundert Personen innerhalb der Menschenmenge laut der Studie spontan ähnlich wie eine Flüssigkeit, die in einem vorhersehbaren Zeitintervall von 18 Sekunden ohne äußere Reize - wie etwa Schubsen - wellenförmig oszillierte.

Ein Muster im Chaos

Mit anderen Worten: Auch wenn es auf Bildern chaotisch wirken kann, folgen dichte Menschenmengen einem bestimmten Muster - sie bewegen sich ab einer bestimmten Dichte wellenförmig wie eine Flüssigkeit. Diese kollektiven Schwingungen könnten auch ohne äußere Einflüsse entstehen, so die Forscher. Entsprechend könne die Arbeit helfen, gefährliche Gedränge vorherzusagen - etwa bei Festivals oder Großveranstaltungen. Dieses Wissen trage dazu bei, Menschenströme besser zu verstehen und sicherer zu lenken.

In einem ebenfalls in "Nature" veröffentlichten Kommentar fasst Antoine Tordeux von der Universität Wuppertal zusammen: "Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass solche Menschenmengen nicht statisch sind, sondern große, koordinierte Bewegungen ausführen, die zu großen Schwankungen der lokalen Dichte führen." Werde diese Dichte extrem, könnte die Dynamik dazu führen, dass Menschen stürzen, was die Ursache für Unglücke sein könnte, so der Experte für Sicherheitstechnik. Die Dichte einer Menschenmenge sei ein Schlüsselparameter für die Verhinderung solcher Unfälle, und es gebe einen Schwellenwert für die Dichte, oberhalb dessen die Dynamik von Kontakt- und Schubkräften dominiert werde.

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Vergleich mit der Loveparade-Katastrophe

Die Studienautoren untersuchten auch, ob ihre Ergebnisse allgemeingültig sind, und verglichen sie mit Aufnahmen der Duisburger Loveparade 2010: Bei der Katastrophe waren 21 Menschen in einem Gedränge am einzigen Ein- und Ausgang der Techno-Parade erdrückt worden, Hunderte wurden verletzt.

Bartolo und sein Team stellten fest, dass in Duisburg ähnliche Schwingungen auftraten, sobald die Menschenmenge eine vergleichbare Dichte erreichte wie beim Sanfermin-Fest. Die Studienautoren schließen: "Daher bieten unsere Ergebnisse eine praktische Strategie zur Vorhersage von gefährlichem Verhalten von Menschenmengen in engen Räumen."

Wie Tordeaux betont, kann die Tatsache, dass sich Menschenmengen häufig zu Anlässen mit erhöhten Emotionen versammeln, also etwa bei Festivals oder Protesten, zu der beobachteten Dynamik beitragen - dieser Effekt sei schwer zu quantifizieren. "Die Tatsache, dass die gleiche Dynamik in Aufnahmen von San Fermín und der Loveparade zu sehen ist, legt jedoch nahe, dass die Ergebnisse der Autoren für alle Menschenmengen gelten könnten", schreibt er. (dpa/bearbeitet von mak)

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