Die Arbeitslosigkeit steigt, die Inflationsrate auch, der Rubel schwächelt - Russlands Wirtschaft steht vor einer Rezession. Präsident Putin setzt auf billige Kredite und neue Handelspartner. Doch das wird langfristig nicht helfen, meint Russland-Experte Rudolf Traub-Merz. Er hält die Wirtschaft für strukturell "krank".

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"Der Höhepunkt der Wirtschaftskrise ist überschritten", das sagte Wladimir Putin vor einigen Tagen. Der Ölpreis hat wieder angezogen, ebenso wie der Rubel, der im Dezember vergangenen Jahres dramatisch an Wert verloren hatte. Alles wieder im Lot also?

Eher nicht. Es gibt andere Zahlen, die der Regierung in Moskau Sorgen machen dürften. Die Arbeitslosigkeit steigt, von 5,3 Prozent im Jahr 2014 auf derzeit 7 Prozent. Die Inflation galoppiert, rund 15 Prozent Preissteigerung werden für dieses Jahr erwartet. Beim Bruttoinlandsprodukt erwartet der Weltwährungsfonds IWF ein Minus von 3 Prozent.

Russland-Experte Rudolf Traub-Merz hält ein anderes Kriterium das wichtigste, um zu verstehen, wie schlecht es derzeit um die wirtschaftliche Lage Russland bestellt ist: Die Entwicklung des Konsums. "Der Privatkonsum bricht ein, weil die Reallohneinbußen bei 7 bis 8 Prozent liegen", sagt er. Traub-Merz leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau. Im Supermarkt merkt er von der Krise nichts: "Am Anfang gab es viele Produkte nicht mehr. Zuerst wurden die Lager geräumt, dann abgewartet, wie sich der Wechselkurs entwickelt. Jetzt sind viele Waren zurückgekehrt, nur um 30 bis 40 Prozent teurer." Allerdings gehört Traub-Merz zur kaufkräftigen Mittelschicht, die steigende Preise kompensieren kann. "Aber in den städtischen Randbezirken merkt man den Einbruch beim Massenkonsum." Vor allem der Absatz von Autos sei stark zurückgegangen, mit bis zu 20 Prozent weniger verkauften Autos wird 2015 gerechnet.

"Die Wirtschaft wäre so krank wie vorher"

Bei der Frage nach den Ursachen für die Krise der russischen Wirtschaft schießen viele Experten schnell: Die Sanktionen, der Ölpreis, die Ukraine-Krise. Traub-Merz ist da vorsichtig: "Das hat alles Einfluss und verschärft die Krise, es ist eben nur sehr schwierig, das zu quantifizieren." Die Sanktionen hätten ja auch positive Effekte, erzählt Traub-Merz: "Der Agrarbereich erlebt einen Wachstumsschub." Nicht ohne einen kleinen Haken allerdings: Wie die "Neue Zürcher Zeitung" jüngst schrieb, steigert sich die inländische Käseproduktion seit Anfang des Jahres um 30 Prozent. Nur sank gleichzeitig die Milchproduktion. Woraus der Käse gemacht wird? Aus Palmöl, vermutet die "NZZ". Das wird gerade vermehrt eingeführt. Analogkäse gegen die Krise also.

Viel wichtiger als der Käse ist aber nach wie vor das Öl für die russische Wirtschaft. Da stehen die Zeichen deutlich auf Erholung: Die österreichische Raiffeisen-Bank etwa geht in einem aktuellen Analyse-Papier von einem stark steigenden Ölpreis aus. Das werde zwei positive Folgen haben: Der Moskauer Leitindex Micex, der sich zur Hälfte aus Energietiteln zusammensetzt, werde anziehen. Und die Regierung werde mehr Steuern einnehmen. Für Russland-Experte Traub-Merz kein Grund zum Aufatmen: "Selbst wenn der Ölpreis kräftig steigt und wir wieder Wachstumsraten von 5 bis 6 Prozent sehen, wäre Russlands Wirtschaft so krank wie vorher."

Keine Investitionskultur

Die Diagnose, die Traub-Merz stellt, ist niederschmetternd: "Wir haben eine Tendenz zur Stagnation, und das Problem wurde schon zu Zeiten des Ölpreisbooms angelegt. Dieses Wirtschaftswunder hat die Wirtschaftsstruktur kaputt gemacht, weil die Investitionen und damit die Modernisierung der Wirtschaft ausblieben." In seinem Aufsatz "Öl oder Autos" hat Traub-Merz sich mit den Fehlentwicklungen beschäftigt, in Kürze lautet sein Befund so: Seit 1999 verlässt sich Russland nur auf die Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen, hauptsächlich Öl. Weil der Rubel seitdem stark aufgewertet wurde, hat es der Produktionsstandort Russland schwer. Statt gezielt Exportbranchen aufzubauen, hat der Kreml seitdem nur Großunternehmen mithilfe von Staatsaufträgen gezielt gefördert. So etwas wie eine Investitionskultur und eine Wettbewerbsverfassung sei deswegen nie entstanden.

Auch die Versuche der Notenbank, mit der Senkung des Leitzinses auf 11,5 Prozent Investitionen anzuregen, hält Traub-Merz für wenig erfolgversprechend. "Billiges Geld wären für mich negative Realzinsen." Bis der Kredit bei den Unternehmen ankomme, sei die Zinsrate aber schon höher als die Inflationsrate. Und die Unternehmer seien nicht gerade optimistisch, den nötigen Gewinn zu erwirtschaften.

Das ist gerade für exportorientierte Unternehmen schwer, weil die Notenbank den Rubel wieder stabilisiert und damit russische Waren teurer macht. "Als der Rubel im Dezember abgestürzt war, sah man in den großen Städten Kasachen mit Scheckbüchern wedeln", sagt Traub-Merz von der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Rund 100.000 Autos wurden zusätzlich verkauft, hauptsächlich nach Kasachstan." Der Russland-Experte hält das für eine Möglichkeit, die Exporte und damit die ganze Wirtschaft anzukurbeln.

Annäherung an China als Weg aus der Krise?

Signale in diese Richtung vermisst er allerdings. Der Vizechef des Organisationskomitees des St. Petersburger Wirtschaftsforums hob besonders die Sitzung der russisch-chinesischen Regierungskommission hervor. Moskau würde gerne seine Handelsbeziehungen zu Peking vertiefen – das könnte ein Weg aus der Krise sein.

Russland-Experte Traub-Merz ist aber skeptisch, dass sich dadurch die wirtschaftliche Lage verbessert. "Wenn Russland die Beziehungen zu China intensiviert - auf welcher Basis? China will Russland nur als Rohstofflieferant, mehr nicht. Lassen sich so Devisen verdienen? Ja. Verbessert das die Wirtschaftslage? Nein."

Zwar verfügt Russland über Rohstoffe, die das wachsende China braucht – Energie, Stahl, Holz, Weizen. Aber offenbar weigert sich Peking bislang, auch Produktionsstätten und damit Arbeitsplätze in Russland zu schaffen. Und Moskau hat es bisher versäumt, eine starke Petrochemie und Agrarbusiness aufzubauen. "Die Wirtschaft kann nur gedeihen, wenn Russland sich von der Rohstoffabhängigkeit löst und eine verarbeitende Industrie entwickelt", sagt Rudolf Traub-Merz. "Aber so eine Tendenz kann ich nicht erkennen."

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