Mit Oldtimern fing 2018 alles an: Lunaz Design machte sich einen Namen damit, edle britische Autoklassiker auf Elektroantrieb umzurüsten. Anfangs erfolgreich: Die Nachfrage überstieg schnell das Angebot, die Produktionskapazitäten waren trotz horrender Preise im meist sehr hohen sechsstelligen Bereich auf absehbare Zeit erschöpft. Doch die Truppe rund um die beiden Firmengründer David Lorenz und Ex-Formel-1-Ingenieur Jon Hilton dachte frühzeitig weiter: Als zweites Standbein integrierten sie das Technologie-Unternehmen Lunaz Applied Technologies (LAT) in die Firmengruppe, von dessen Knowhow perspektivisch auch große Autohersteller und Zulieferer profitieren sollten.
Video: Im Video: Lunaz baut Diesel-Lkw auf E-Antrieb um
Auch aufgrund solcher Perspektiven sind oder waren namhafte Investoren wie Ex-Fußballstar
Grund: verschobenes Verbrenner-Verbot
Damit meinen die Briten eigenen Angaben zufolge die "Verzögerungen bei der gesetzlichen Vorgabe für Flotten, auf emissionsfreie Fahrzeuge umzustellen". Das soll im Klartext bedeuten: Die von der aktuellen britischen Regierung um Premierminister
Die aktuellen Entwicklungen rund um Lunaz kommen überraschend, denn nicht nur David Beckham war überzeugt vom Geschäftsmodell der Briten. In mehreren Finanzierungsrunden hatten sie weitere Investoren angezogen, von denen inzwischen jedoch welche angesprungen sein sollen. Im Zeitraum 2021/22 wurde der Firmenwert Unternehmensangaben zufolge auf 200 Millionen US-Dollar taxiert, was aktuell etwa 185 Millionen Euro entspricht. Das Geld wurde unter anderem für das neue, fast zwei Hektar große Hauptquartier inklusive Entwicklungszentrum und Produktionsstätten verwendet, das in direkter Nachbarschaft zur bisher genutzten Werkshalle im Motorsport-Mekka Silverstone entsteht. Ob es von Lunaz je genutzt wird, ist aktuell höchst fraglich.
Lunaz plant "Upcycled Electric Vehicles"
Die Briten beteuern jedoch, den Betrieb wieder aufzunehmen, sobald das Unternehmen umstrukturiert und das Marktumfeld günstiger ist. Deshalb behalte es auch sein geistiges Eigentum. Der Plan bleibt, Nutzfahrzeuge wie Busse oder Lkw von Verbrenner- auf Elektroantrieb umzurüsten. Statt alte und dreckige Fahrzeuge auszurangieren und zu verschrotten, sollen diese einem "Upcycling" (Wiederaufbereitung) unterzogen werden. Diese "Upcycled Electric Vehicles" (UEV) sollen besonders sinnvoll in Sachen Umwelt- und Klimaschutz sein. Indem eigentlich ausrangierte Fahrzeuge nicht verschrottet, sondern dank rundum modernisierter Technik im Dienst gehalten werden, soll sich über deren gesamte Lebensdauer eine CO2-Einsparung von 80 Prozent ergeben.
Lunaz zufolge lohnt sich das darüber hinaus auch finanziell für die Flottenbetreiber, weil die Firma ihren Umbau auf dem Preisniveau eines neuen Diesel-Lkw oder -Busses anbieten will. Das soll jedoch deutlich günstiger sein als die Anschaffung eines neuen elektrisch angetriebenen Nutzfahrzeugs, was im Umkehrschluss auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler entlasten soll. Mehrere Kunden hatte das Konzept bereits überzeugt. Das Unternehmen hatte bereits Vereinbarungen zur Elektrifizierung von Fahrzeugflotten mit großen Kommunen und privaten Unternehmen in Großbritannien und den USA unterzeichnet. So sollten die elektrischen Mülllaster unter anderem in London für Sauberkeit sorgen. Unter anderem hatte das britische Entsorgungsunternehmen Biffa bei Lunaz zehn auf E-Antrieb umgerüstete Mülllaster bestellt.
Los geht's mit Mülllastern
Sein neues Geschäftsfeld wollte Lunaz ursprünglichen Plänen zufolge ab dem vierten Quartal 2023 in einem ersten Schritt mit der Einführung elektrifizierter und überarbeiteter Mülllaster erschließen. Dabei wollten sich die Briten anfangs auf den Umbau des Mercedes-Benz Econic konzentrieren. Dieses Lkw-Modell ist eines der weltweit beliebtesten Fahrzeuge für spezielle industrielle Anwendungen: Auf Flughäfen wird es ebenso gerne eingesetzt wie auf Baustellen, in der Abfallwirtschaft sowie bei der Feuerwehr und im Rettungsdienst. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings nicht bekannt, dass die Serienproduktion tatsächlich schon begonnen hätte.
Falls Lunaz den erhofften Neustart schafft, will die Truppe aus Silverstone die Erfahrungen nutzen, die sie beim Elektromodden seiner Oldtimer gewonnen hat. Wie die Autoklassiker werden auch die Lastwagen einer Komplettrestauration unterzogen. Die Briten kümmern sich also auch um Karosserie, Interieur, Aufbau und alle Technik, die nicht den Antrieb umfasst. Das fertige Produkt soll mit einem Neufahrzeug vergleichbar sein.
Komfortabler als zuvor
Oder sogar besser, denn im Fahrerhaus geht es fortan deutlich komfortabler zu als zuvor. Lunaz weist speziell darauf hin, dass die gemeinhin wohl eher unbequemen mittleren Sitze gegen komfortablere Pendants getauscht werden. Auch die schweißtreibenden Vinyl-Sitzbezüge des Mercedes Econic fliegen raus. Stattdessen sollen in den Fahrerhäusern Materialien zum Einsatz kommen, die Lunaz auch für seine edlen Elektro-Oldtimer verwendet. Darüber hinaus ziehen Becherhalter und induktive Ladeschalen für alle Insassen sowie zusätzliche USB-Anschlüsse ein.
Auch die Software entwickelt Lunaz im eigenen Haus. Die Telematik-Technologie soll den Flottenbetrieb deutlich vereinfachen, indem beispielsweise Service und Wartung hochgradig digitalisiert und automatisiert werden. Die damit verknüpfte Hardware bringt LAT mit einem zusätzlichen Gestell am Armaturenbrett an, um Letzteres nicht aufbohren zu müssen. Dazu gehören zwei zehn Zoll große Displays, die miteinander verbunden sind und somit einen doppelt so großen Panorama-Monitor darstellen. Auf der Beifahrerseite gibt es einen weiteren Bildschirm, der als Steuereinheit für das Infotainment-System dient, das mit Android Auto und Apple Carplay arbeitet. Die Analoginstrumente des Mercedes Econic weichen einem Zwölf-Zoll-Screen, dessen Anzeigen über Dinge wie Reichweite, aktuellen Stromverbrauch, Streckendaten, den Zustand des Antriebsstrangs und des Akkufüllstand informiert sowie Diagnoseinformationen liefert.
Umfassendes Sicherheitspaket
Die Sicherheitstechnik modernisiert die Firma, indem Kameras statt Außenspiegel sowie Radartechnik zum Einsatz kommen. Die Kameras liefern ihr Bild auf zwei 14-Zoll-Monitore, über die die Fahrerinnen und Fahrer nicht nur checken können, was hinter dem Lastwagen geschieht. Eine nach unten gerichtete Kamera filmt, was direkt vor und unter dem Lkw vor sich geht. Besonders verwundbare Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer werden darauf hervorgehoben dargestellt. Alle Systeme sollen zu einer bei allen Wetterbedingungen und selbst absoluter Dunkelheit funktionierenden 360-Grad-Vogelperspektiven-Übersicht führen, die zum Beispiel Abbiegeunfälle verhindern sollen, bei denen sich die Opfer im toten Winkel befinden.
Anstelle des bisherigen Dieselmotors tritt Lunaz' modularer Elektro-Antriebsstrang, der ein maximales Drehmoment von 6.999 Newtonmetern liefern soll. Wie viele Motoren diesen enormen Wert erreichen und wo diese genau positioniert werden, verraten die Briten noch nicht. Die Größe der Batteriepakete passen sie an den jeweiligen Einsatzzweck an. So erhält ein Müllwagen, der fast ausschließlich in der Innenstadt unterwegs ist, einen kleineren Akku als ein Fahrzeug, das viel im Überlandverkehr unterwegs ist. Die Spanne der Akkukapazität reicht von 275 bis 400 Kilowattstunden, wobei die Einzelpakete in etwa zehn Minuten getauscht werden können. Über LED-Leuchten im Kühlergrill lässt sich von außen überprüfen, wie der Ladestand der Batterie ist.
Weltweite Expansion geplant
In einem ersten Schritt wollte Lunaz früheren Plänen zufolge in Silverstone etwa 1.100 Nutzfahrzeuge pro Jahr auf Elektroantrieb umbauen. Insgesamt rechneten Lorenz, Hilton und Co. damals allein in Großbritannien, der EU und den USA mit einem Potenzial von 80 Millionen Fahrzeugen, die dem angestrebten Upcycling unterzogen werden können. Um auch in dieser Hinsicht mit möglichst geringem CO2-Abdruck unterwegs zu sein, wollte Lunaz zusätzliche Produktionsstätten in seinen künftigen Märkten errichten, um die Lieferwege zu minimieren. Man prüfe weitere Standorte in Europa sowie in den Vereinigten Staaten und Asien, hieß es kurz nach der LAT-Gründung in einer offiziellen Mitteilung. Inzwischen scheinen diese Pläne von der Realität eingeholt worden zu sein. © auto motor und sport
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.