Katerstimmung nach dem EU-Beschluss zur Aussetzung der CO₂-Strafzahlung. Einige Marken sehen jene im Vorteil, die bei den Abgaszielen nicht liefern konnten. Schlimmer noch: Der Kommissionsbeschluss stößt ein Tor auf, um die Klimaziele zu kassieren.

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Eigentlich sollte es in der Autoindustrie aktuell so etwas wie ein Glücksgefühl geben. Es ist nur wenige Tage her, da hat die EU-Kommission den Würgegriff bei den Autoherstellern gelockert. Vorerst werden jene Marken, die das veranschlagte CO₂-Ziel von rund 93 Gramm/km verpassen, nicht zur Kasse gebeten. Eigentlich ein Grund zum Aufatmen, doch so ganz kann sich die Branche nicht mit diesem Entschluss anfreunden.

VW, Ford und Renault die Gewinner

Für die einen geht er nicht weit genug, andere sehen jetzt Marken im Vorteil, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Die Drückeberger wären quasi belohnt worden, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Die EU-Kommission sieht das nicht so. Ihr ging es darum, der gebeutelten Autoindustrie in Europa eine "Atempause" zu verschaffen, dabei aber auch weiterhin auf die Einhaltung der Klimaziele zu pochen. "Wir werden an unseren vereinbarten Emissionszielen festhalten, jedoch mit einem pragmatischen und flexiblen Ansatz", so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Unser gemeinsames Ziel ist eine nachhaltige, wettbewerbsfähige und innovative Automobilindustrie in Europa, von der unsere Bürgerinnen und Bürger, unsere Wirtschaft und unsere Umwelt profitieren."

Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass manche von diesem Rettungsschirm ganz besonders profitieren. Bereits Ende letzten Jahren wies der Marktbeobachter Dataforce darauf hin, dass manche Hersteller es 2025 sehr schwer haben würden, ihre CO₂-Ziele zu erreichen. "Von allen Herstellern mit Verbrennungsmotoren in ihrer Modellpalette liegen nur Geely (Volvo, Polestar, etc.) und die SAIC Group (MG) unter dem Schwellenwert von 93,6 g/km. Nach ihnen müssen Toyota (105 g/km) und BMW (106 g/km) vergleichsweise mäßig reduzieren, aber alle anderen werden erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen", schrieben die Verfasser der Studie. Dies gelte insbesondere für den VW-Konzern und Ford, so die Dataforce-Marktbeobachter weiter.

Aber auch Renault gesellte sich zuletzt zu diesem Kreis, was vor allem an der Marke Dacia liegen soll. Dass diese Konzerne den größten Nutzen aus dem Entgegenkommen der EU-Kommission ziehen, zeigt allein schon die Strafe, die VW Ende dieses Jahres hätte blechen müssen. Denn dem deutschen Vorzeigeunternehmen drohte ein Bußgeld von 1,5 Milliarden Euro.

Nur der Volvo-Chef wird deutlich

Das zeigt, wie sehr zuletzt der Verbrenneranteil bei den Marken eine Rolle gespielt hat. Es ist verständlich, dass die Konzerne, die mehr auf die E-Mobilität setzen, verärgert sind – auch wenn sich keiner so richtig aus der Deckung bewegen möchte. Bei BMW oder dem Stellantis-Konzern um Fiat, Peugeot und Opel, die bereits die Abgasziele erfüllen, klingt es bisher nur vage an, dass mehr Flexibilität beim CO₂-Thema nur der Konkurrenz nutze.

Einer, der zuletzt deutlicher wurde, war Volvo-Vorstandschef Jim Rowan. Zwei Tage, bevor die EU ihren Aktionsplan für die Autoindustrie vorstellte, appellierte er an die Kommission, das beschlossene Verbrenner-Aus bis zum Jahr 2035 nicht wieder zurückzunehmen. "Europa kann es sich nicht leisten, dass die Elektrifizierung scheitert oder der Übergang verzögert wird", sagte Rowan "Zeit Online". "Europa muss in die Zukunft investieren, nicht in die Vergangenheit. Wir können das Problem nicht weiter vor uns herschieben."

Tür aufgestoßen

Einige mögen anmerken, dass die Sorge ein wenig übertrieben ist, da die EU-Kommission ja an den vereinbarten Zielen festhalten will – was dann auch für das "Verbrenner-Aus" 2035 gelten würde. Umweltschützer kritisieren die geplante Lockerung dennoch. Der Verband "Transport and Environment" (T&E) sprach davon, dass der EU-Autoplan "ein großes Zugeständnis an die Industrie" ist. Und davon könnte es in den nächsten Wochen noch mehr geben. Denn ungewiss ist, wie lang die Kommission bei diesem Thema überhaupt die Zügel in der Hand behält.

Schließlich müssen Parlament und Rat dem Aktionsplan noch zustimmen. Und diese beiden Institutionen haben das Recht, den Gesetzesentwurf der Kommission zu überarbeiten. Beobachter erwarten, dass dort noch mehr Zugeständnisse für die alte Autoindustrie und gegen den Klimaschutz eingefordert werden. Es gebe Kräfte, heißt es, die wollen die Flottengrenzwerte am liebsten ganz abschaffen.

Was auf Wohlwollen in der Autoindustrie stößt. Denn das Festhalten der EU an dem strikten Ausstiegsplan wird als enttäuschend erachtet, ist aus der Branche zu entnehmen. Kommissionspräsidentin von der Leyen habe das Prinzip der Technologieoffenheit ausdrücklich betont – bislang jedoch ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ist vom Verband der Automobilindustrie (VDA) zu hören. "Es ist wichtig, Technologieoffenheit tatsächlich umzusetzen. Dazu gehört auch, die Rolle von Plug-in-Hybriden über das Jahr 2035 hinaus stärker zu berücksichtigen", fordert VDA-Präsidentin Hildegard Müller. "Zudem muss die durchschnittliche CO₂-mindernde Wirkung erneuerbarer Kraftstoffe berücksichtigt werden. All diese Punkte sind im Plan bisher nicht berücksichtigt. Zudem muss ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der es ermöglicht, Fahrzeuge mit sogenannten kohlenstoffneutralen Kraftstoffen als CO₂-frei einzustufen", lauten die weiteren Forderungen von Müller.

Klimaziele auf dem Prüfstand

Ihre Hoffnungen setzt die Branche auf den Rat und das Parlament. Sie sollen die Industrieforderungen umsetzen. Doch ob sich die Autohersteller darüber langfristig freuen dürfen, ist mehr als fraglich. "Die Autoindustrie fordert bereits weitere Zugeständnisse, bevor die Tinte auf diesem Plan überhaupt trocken ist. Aber Zölle und andere globale Gegenwinde werden nicht durch eine Verlangsamung der Elektrifizierung gemildert", kritisiert Julia Poliscanova, Senior Director für Fahrzeuge und Elektromobilität bei T&E. "Dies wird China nur einen noch größeren Vorsprung bei Elektroautos verschaffen. Dieser EU-Plan muss eine klare Linie ziehen, wenn die europäische Industrie endlich aufholen soll."

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Auch Volvo-Chef Rowan hält im Gespräch mit "Zeit Online" dagegen. Die Elektrifizierung der Autoindustrie sei essenziell, um Europas globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. "Sie wird langfristig Arbeitsplätze schaffen und das Wachstum fördern." Die globale Wettbewerbsfähigkeit werde sich in den Bereichen Elektrifizierung und softwaredefinierte Fahrzeuge entscheiden. "Derzeit führen andere Weltregionen in beiden Bereichen", sagt Rowan. "Europa muss schnell handeln."

Hinweis: In der Fotoshow präsentieren wir Ihnen die aktuell meistverkauften Elektroautos Deutschlands.  © auto motor und sport