Weil es gegen eine YouTube-Richtlinie zur Information über COVID-19 verstieß, löschte der Dienst ein Video. Ein Gericht hielt das für unzulässig und ordnete an, es wieder online zu stellen. Weil YouTube das erst einmal prüfte, muss Google, der Mutterkonzern von YouTube, nun 100.000 Euro Ordnungsgeld zahlen. Künftig könnte es häufiger zu Urteilen gegen soziale Netzwerke kommen.

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Über COVID-Maßnahmen muss man seine Meinung äußern können. Das gilt auch dann, wenn sie gegen das Hausrecht von YouTube in Form der "Richtlinie zu medizinischen Fehlinformationen über COVID-19" verstößt. YouTube hatte ein Video gelöscht und gegen den YouTuber wegen des Verstoßes gegen die Unternehmensregeln eine Warnung ("Strike") ausgesprochen.

YouTube wägt drei Wochen ab, ob Gerichtsentscheidung zu befolgen ist

Das Oberlandesgericht Dresden hatte entschieden, dass Löschung und Verwarnung rechtswidrig sind und YouTube dazu verurteilt, ein Video, das nach Meinung des Dienstes gegen dessen Unternehmensrichtlinie verstieß, wieder im Kanal des YouTubers online zu nehmen und die Verwarnung zurückzunehmen.

Die Entscheidung wurde YouTube am 23. April 2021 zugestellt. Erst am 14. Mai 2021 war der Inhalt wieder abrufbar und die Verwarnung wurde zurückgenommen. Begründung: "Die jeweiligen Konsequenzen der Entscheidung des OLG Dresden und ihre Möglichkeiten (habe man erst) sorgfältig abwägen" müssen, bevor man "das Videomaterial für den Abruf durch Dritte wieder (…) einstellte".

"Dass eine solche Abwägung vor dem Hintergrund der Senatsentscheidung jedoch weder veranlasst noch geboten war, erschließt sich, zumal (YouTube/Google) anwaltlich beraten war, von selbst." So lautet die Bewertung des Gerichts. Die Missachtung der gerichtlichen Anordnung sei "ein vorsätzlicher und – aufgrund der Zeitdauer – auch schwerer Verstoß" gegen das Recht. Ein Bußgeld von 100.000 Euro sei in diesem Fall (noch) ausreichend. Wird es nicht befolgt, droht Ordnungshaft.

Grundregeln des Rechtsstaates nicht verstanden

Ein Unternehmen, das auf dem Standpunkt steht, man dürfe Gerichtsentscheidungen noch auf die Rechtskonformität nach privaten Regeln prüfen, nachdem (!) ein Gericht sie nach dem Gesetz für rechtmäßig erklärt hat, hat die Grundregeln des Rechtsstaats nicht verstanden. Dass es sich dabei um eine weltweit agierende Meinungsplattform handelt, die jedem das Wort abschneiden kann, weil sie zugleich die Plattform der Meinungsfreiheit ist, ist erschreckend. Wer sich dagegen wehren will, kann künftig mit guten Chancen klagen.

Der Bundesgerichtshof hat nämlich kürzlich ein grundlegendes Urteil zugunsten der Meinungsfreiheit gefällt. Es bezieht sich auf die Löschung und Sperrung sogenannter Hassrede. Um Willkür zu vermeiden, müssen Anbieter Betroffene anhören, bevor sie ihnen auf ihren Plattformen das Wort abschneiden. So sollen Anbieter dazu gezwungen werden, sich mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Grundrechtsschutz durch Verfahren, nennt das der Verfassungsjurist.

Das Urteil zwingt also zum Dialog mit dem Nutzer. Anbieter müssen nun zunächst ein Anhörungsverfahren in den Nutzungsbedingungen schaffen. Ob das Verwarnungsverfahren von YouTube diesen Anforderungen gerecht wird, kann man bezweifeln. Jedenfalls muss YouTube das prüfen.

Aktuelle Löschpraxis auf dem Prüfstand

Ähnliche Fälle wie der von YouTube sind an der Tagesordnung. Apple und Google haben kürzlich eine App aus ihren Online-Stores entfernt, weil sie mit den COVID-19-Regeln der Unternehmens kollidierten.

Das betraf die Datingplattform "Unjected" für Menschen, die sich "medizinische Autonomie und freie Meinungsäußerung" wünschen. In einem anderen Fall hat Google den Sender Sky News Australia ausgesperrt. Begründung laut Sender: Die Posts stimmten nicht mit der Position von YouTube überein. Es sei um zahlreiche Videos gegangen, die die Existenz von COVID-19 leugneten. Diese Meinungen empfinden viele als schräg oder gar gefährlich. Sie sind aber nicht strafbar.

Aktuell macht das Fehlen eines rechtmäßigen Anhörungsverfahrens alle Posts, die nicht strafbar sind, zulässig, wenn sie auf Basis von Nutzungsbedingungen gelöscht wurden, die wegen des Verfahrensfehlers unwirksam sind. Das Fehlen des Verfahrens führt zu einer unangemessenen Benachteiligung der Nutzer und dürfte aktuell die Regel bei sozialen Netzwerken sein.

Soziale Netzwerke müssen mit Klagewelle rechnen

Bis ein rechtmäßiges Verfahren etabliert ist, findet keine Prüfung von Inhalten nach Hausrecht statt. Bis dahin kommt es allein darauf an, ob Inhalte strafbar sind. Wenn das Anhörungsverfahren geschaffen ist, wird eine inhaltliche Prüfung jenseits der Strafbarkeit relevant. Anbieter müssen sich also neues Recht zu den inhaltlichen Fragen geben. Darin müssen sie die Grenze des nach Hausrecht Verbotenem, obwohl nicht Strafbaren in AGB-Bestimmungen klar fassen und sachlich begründen.

Diese Fälle sind nach Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung einfach zu lösen. Die Aussagen sind nicht strafbar und bis auf Weiteres im Zweifel zulässig. Das gilt für alle Anbieter, die kein Anhörungsverfahren haben, nach der Entscheidung des BGH allein wegen des Verfahrensmangels der Nutzungsbedingungen und ohne weitere inhaltliche Prüfung.

Das dürfte auch Nutzern und Anwälten klar sein, deren Klagen gegen Löschen und Sperren aktuell oft leicht zu gewinnen sind. Anbieter sozialer Netzwerke müssen jetzt schnell ihre Verantwortung übernehmen. Sonst kann es teuer werden.

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