In der kieferorthopädischen Praxis kollidieren medizinische Notwendigkeiten mit Geschäftsinteressen. Es braucht mehr Forschung zu den Zielen und Erfolgen der Zahnregulierung in Deutschland.
Mehr als jedes zweite Kind bekommt in Deutschland heutzutage eine Zahnspange. Bei manchen beginnt die kieferorthopädische Behandlung mit einer losen Spange, je nach individueller Zahnentwicklung meist zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr. Häufig folgt dann eine festsitzende Spange: Sogenannte Brackets, die fest auf jeden Zahn geklebt werden, und ein Draht, der permanent Druck auf die Zähne ausübt, sollen das Gebiss in Idealposition bringen.
Historisch: "Übel sitzende Zähne" mit Zange und Feil bearbeiten
Die negativen Auswirkungen von ausgeprägten Zahn- und Kieferanomalien kennt man schon lange. Der griechische Arzt Hippokrates (460 bis 370 vor Christus) erwähnte sie bereits in seinem Werk. Der antike römische Dichter Ovid betonte mehrere hundert Jahre später den Reiz schöner Zähne. Doch das Instrumentarium zur Korrektur von Fehlstellungen war rustikal. Bis weit in die Neuzeit hinein rückte man schiefen Zähnen und einem Raummangel im Kiefer mit Zange und Feile zu Leibe: Um Platz zu schaffen, wurden Zähne kurzerhand abgefeilt oder gezogen.
Lesen Sie auch
Der französische Zahnarzt Pierre Fauchard (1678 bis 1761) gilt als Begründer der modernen Zahnheilkunde in Europa. In seinem "Traktat von den Zähnen" berichtet er auch von "krummen, übel sitzenden Zähnen" und "von den Instrumenten und Mitteln, welche bei der Operation dienlich sind, da man die Zähne gerade richtet und da man sie wieder fest macht".
Fauchard entwickelte das Bandeau: eines der ersten kieferorthopädischen Geräte, bestehend aus einem hufeisenförmigen Metallbogen, an den er die Zähne mit Bindfäden fixierte, um ihre Ausrichtung zu korrigieren.
Der US-amerikanische Zahnarzt Edward Angle (1855 bis 1930) war wohl schließlich der Erste, der sich dem Thema "Zahnfehlstellungen" systematisch widmete. Er entwickelte ein Klassifikationssystem für Fehlbisse, das bis heute Anwendung findet, und mehrere Apparaturen – darunter die Brackets.
Haben deutsche Kinder besonders schiefe Zähne?
"Primäre Aufgabe der Kieferorthopädie ist die präventive und korrektive Behandlung und Beseitigung von Fehlfunktionen sowie von Zahn- und Kieferfehlstellungen mit Krankheitswert", steht in der Zusammenfassung der Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie, die das Institut der Deutschen Zahnärzte vor zwei Jahren veröffentlichte.
Genau hier setzen Kritik und Zweifel von Verbraucherverbänden und vereinzelten Fachkollegen an, die sich dazu äußern: Welche Fehlstellungen haben tatsächlich einen Krankheitswert? Wo spielen hingegen Geschäftsinteressen der Leistungsanbieter eine Rolle, die auf womöglich uninformierte und unsichere Patienten beziehungsweise deren Eltern treffen?
"Bei den kieferorthopädischen Leistungen und den Zahnspangen gibt es definitiv einen Missstand", sagt Stefan Schwartze, SPD, Patientenbeauftragter der Noch-Bundesregierung. Viele Menschen bekämen Leistungen aufgeredet, zum Teil aggressiv beworben, die für eine sinnvolle medizinische Behandlung gar nicht notwendig seien.
"Wer internationale Vergleiche betrachtet, gewinnt schnell den Eindruck, deutsche Kinder haben die schiefsten Zähne der Welt", schreiben Johannes Edelhoff, Markus Grill und Palina Milling, die für den NDR, WDR und die "Süddeutsche Zeitung" zum Thema recherchierten. Während im Nachbarland Dänemark etwa 29 Prozent der Kinder, in Schweden 30 Prozent und in Norwegen 35 Prozent eine Zahnspange trügen, "bekommen hierzulande schätzungsweise 66 Prozent eine Spange verpasst".
Behandlungsziel der Kieferorthopädie: Ideale Verhältnisse schaffen
Warum tragen hierzulande so viele Kinder eine Zahnspange? "Wegen mangelnder Aufklärung", sagt Hans-Werner Bertelsen, Zahnarzt in Bremen. Alle Zähne erschienen zunächst schief, wenn sie aus dem Kiefer in die Mundhöhle durchbrechen, sagt Bertelsen. "Mit der Zeit wachsen sich rund 90 Prozent der Zähne aber gerade, zum Beispiel durch den Druck der Lippen und der Zunge."
Die meisten Kieferorthopäden würden bei jeglichem Schiefstand der Zähne sagen, dass eine Regulierung notwendig sei. "Die Eltern vertrauen dem Arzt, denn wenn der sagt, eine Behandlung sei erforderlich, muss es ja richtig sein", so Bertelsen. Zahnspangen, vor allem die festsitzenden, brächten den Kieferorthopäden viel Umsatz. Aber: "Wir haben ein absolutes Overtreatment", eine Überbehandlung, sagt Bertelsen: "In den meisten Fällen ist die Zahnregulierung völlig überflüssig."
Robert Fuhrmann, Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Kieferorthopädie am Universitätsklinikum Halle/Saale, ist vollkommen anderer Ansicht. Laut dem aktuellen Zahnreport der Barmer-Krankenkasse gebe es zwar in manchen Bundesländern eine Überversorgung, in anderen aber tatsächlich auch eine Unterversorgung – zum Beispiel bei Jungen in Sachsen-Anhalt.
Die rühre daher, dass es in dem ostdeutschen Bundesland zu wenig kieferorthopädische Praxen gäbe, so Fuhrmann. Der Grund: "Niemand will sich hier niederlassen. Kieferorthopäden sind Unternehmer. Ein Unternehmer geht dahin, wo Gewinne zu erwarten sind", argumentiert Fuhrmann. In Sachsen-Anhalt kein leichtes Unterfangen: Der Anteil Privatversicherter sei gering, außerdem "wollen die Leute nicht gerne zuzahlen".
Fuhrmann bezweifelt, dass die genannten Prozentangaben im Ländervergleich zur Zahnspangenhäufigkeit überhaupt vergleichbar sind: "Bei solchen Zahlen muss man sich immer fragen: Sprechen wir von der gleichen Altersgruppe, der gleichen Klientel? Oder handelt es sich bei den Angaben um eine vorselektionierte Gruppe?"
Nutzen Kieferorthopäden die gesellschaftlich hohen, ästhetischen Ansprüche an äußere Merkmale – nicht nur strahlend weiße, sondern auch gerade Zähne – aus? Diesen Vorwurf weist Fuhrmann zurück. Die Basis jeder Behandlung sei die medizinische Notwendigkeit: "Das Behandlungsziel ist, möglichst ideale, funktionale Verhältnisse zu schaffen." Eine perfekte Funktion und die Ästhetik seien untrennbar miteinander verbunden: "Das, was gut funktioniert, sieht auch gut aus", sagt Fuhrmann.
Zahnreport liefert Zahlen zur Unter- und Überversorgung
Über- oder Unterversorgung? Ein genauerer Blick auf den Barmer-Zahnreport von Juni 2024 hilft weiter. Dafür analysierten Forschende unter der Leitung von Michael Walter, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik an der Medizinischen Fakultät der TU Dresden, die Abrechnungsdaten von rund 53.000 Versicherten, die zu Beginn der Datenanalyse im Jahr 2013 acht Jahre alt waren. Insgesamt umfasste der Zeitraum der bundesweiten Untersuchung zehn Jahre.
Demnach nahmen bundesweit 54,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von acht bis 17 Jahren eine kieferorthopädische Behandlung in Anspruch. Die Studienautoren sehen den ermittelten Wert in Bezug auf die Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie noch im erwartbaren Bereich. Hier war bei Acht- und Neunjährigen ein Behandlungsbedarf bei 40,4 Prozent der Kinder ermittelt worden: Zehn Prozent wiesen ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, 25,5 Prozent stark ausgeprägte und fünf Prozent extrem stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen. Eine medizinische Behandlung war daher entweder erforderlich, dringend erforderlich oder unbedingt erforderlich.
Hellhörig machen regionale und geschlechtsspezifische Unterschiede. In Bremen unterzogen sich 46 Prozent, in Bayern dagegen 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen einer kieferorthopädischen Behandlung. Michael Walter drückt es in seinem Statement zur Studie vorsichtig aus: "Die bei Mädchen ermittelten 65 Prozent in Bayern und 63 Prozent in Baden-Württemberg ordnen wir bereits in einen Grenzbereich ein, in dem eine richtlinienbezogene Übertherapie nicht mehr sicher ausgeschlossen werden kann."
Die meisten Eltern zahlen aus eigener Tasche zu
Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen allen Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Zahnspange, wenn es der medizinische Befund erfordert. Angaben aus dem Jahr 2016 zufolge lassen sich rund 85 Prozent der Eltern jedoch auf außervertragliche Leistungen ein, die sie aus eigener Tasche bezahlen. Der durchschnittliche Betrag für diese privaten Zuzahlungen liegt bei rund 1.200 Euro. Für nahezu alle Zusatzleistungen fehlten robuste wissenschaftliche Daten, die einen Nutzen bestätigten, schrieben der Kieferorthopäde Alexander Spassov und Kollegen 2016 im "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann Stiftung.
Mit der Begründung, die Behandlung sei schmerzärmer und kürzer, empfehlen Kieferorthopäden häufig spezielle Brackets und Bögen. Eine französische Meta-Studie, die herkömmliche mit angeblich "besseren" Brackets vergleicht, fand jedoch keine Beweise für einen Mehrwert. Es sei leider oftmals eine Geschäftemacherei zu beobachten, sagt Gesa Schölgens von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen gegenüber der ARD. Aus ihrer Sicht seien die Kassenleistungen ausreichend.
Lange Behandlungszeiten im europäischen Vergleich
In Deutschland liegt die durchschnittliche kieferorthopädische Behandlungsdauer bei 42 Monaten, in Österreich bei nur 26 Monaten. Der Grund für das schnelle Vorankommen im Nachbarland ist die Einführung einer Pauschale für die kieferorthopädische Behandlung. Jeder Zahnarzt bekommt dort einen Festbetrag für die Gesamtbehandlung.
Hierzulande können die Praxen alle Behandlungsschritte einzeln abrechnen. Wird der festen Spange eine herausnehmbare Variante vorgeschaltet, sitzen die Familien über Jahre immer wieder im Wartezimmer der Kieferorthopäden. Ein Kieferorthopäde, der zwei Jahre mit einer herausnehmbaren Zahnspange arbeitet und anschließend weitere zwei Jahre mit einer festsitzenden, verdiene deutlich mehr als ein Kollege, der später beginnt und nur mit festsitzender Spange behandelt, zitiert das "Magazin SCHULE" Henning Madsen, Kieferorthopäde in Mannheim.
Nutzen und Risiken abwägen – auch bei der Zahnspange
Es lohnt sich, wenn Eltern vor der Behandlung kritisch nachfragen und sich informieren. Nicht jedes Kind braucht automatisch eine Spange. Die Behandlung kann durchaus Nebenwirkungen haben. "In den Zahnzwischenräumen kann sich bei langer Tragedauer Karies bilden, weil man wegen der Drähte dort nicht gut putzen kann", weiß Zahnarzt Hans-Werner Bertelsen.
Normalerweise achten die Kieferorthopäden darauf. Doch manche Kinder seien besonders anfällig, was mit der individuellen Speichelgüte zusammenhänge. "Hat der Speichel nicht genügend Pufferkapazität [die Fähigkeit, Säuren zu neutralisieren; Anm.d.Red.], entsteht Karies in den Kontaktpunkten zwischen den Zähnen." Bertelsen sieht in seiner zahnärztlichen Praxis auch so genannte "White Spots", Folgeschäden an der Zahnoberfläche, die durch die Verklebung der Brackets und das dafür notwendige vorherige An-Ätzen der Zahnoberfläche mit Phosphorsäure entstehen können.
Die möglichen Nebenwirkungen sollten sorgsam mit dem tatsächlichen Bedarf abgewogen werden. Und: Die seit den 1970er-Jahren gelieferte Begründung, Zahnfehlstellungen führten unweigerlich zu Karies, Parodontitis oder Kiefergelenkserkrankungen, darf in Zweifel gezogen werden. "Heute ist das nicht mehr haltbar. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass es keinen Zusammenhang zwischen Zahnfehlstellungen und diesen Erkrankungen gibt", sagt der Kieferorthopäde Alexander Spassov.
Mehr Forschung zu Ziel und Erfolg der kieferorthopädischen Behandlung nötig
Zu einem kritischen Urteil kamen auch die Gesundheitsforscherinnen Stefanie Seeling und Franziska Prütz vom Robert-Koch-Institut (RKI) im Rahmen der "KIGGS"-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Zwar könnten Fehlstellungen der Zähne und des Kiefers mit Beeinträchtigungen der Beiß-, Kau-, Sprech- oder Atemfunktion verbunden sein und eine kieferorthopädische Behandlung beseitige auch diese Funktionsstörungen. Doch nicht alle von einer Idealstellung abweichende Zahn- und Kieferstellungen hätten einen Krankheitswert.
"Aktuell wird der medizinische Nutzen von kieferorthopädischen Behandlungen stark diskutiert", schrieben Seeling und Prütz schon 2018. Der Bundesrechnungshof habe in den Bemerkungen zu seinem Jahresbericht Ziel und Erfolg der Behandlungen als nur unzureichend erforscht bezeichnet und mehr Versorgungsforschung angemahnt.
Über RiffReporter
- Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter.
- Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
Verwendete Quellen
- kostenfalle-zahn.de: Besuch beim Kieferorthopäden: Ab welchem Alter sinnvoll?
- yumpu.com: Geschichte der Kieferorthopädie
- Kassenärztliche Bundesvereinigung: Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS 6)
- ardmediathek.de: Das Geschäft mit den Zahnspangen
- Universitätsmedizin Halle: Prof. Dr. Dr. Robert Fuhrmann
- barmer.de: BARMER-Zahnreport – Zu viel Kieferorthopädie bei Mädchen?
- barmer.de: BARMER-Zahnreport 2024: Pressekonferenz der BARMER
- researchgate.net: Kieferorthopädische Behandlung aus der Perspektive der Jugendlichen und deren Eltern
- tagesschau.de: Das glänzende Geschäft mit Zahnspangen
- magazin-schule.de: Zahnspange muss nicht (immer) sein!
- German Medical Science: Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung durch Kinder und Jugendliche in Deutschland – Ergebnisse der KiGGS-Studie
© RiffReporter
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.