- Der Stadtstaat Bremen liegt bei der Impfkampagne in Deutschland seit Monaten vorn. Liegt das an der vergleichsweise überschaubaren Größe des Bundeslandes?
- Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard sieht die wesentlichen Gründe woanders.
- Im Interview gibt sie einen Einblick in die erfolgreiche Arbeit der letzten Monate.
Frau Bernhard, Bremen liegt mit einer Impfquote von 72,7 Prozent bei den Erstimpfungen in Deutschland vorn. Gibt es ein Ziel, das Sie noch erreichen wollen?
Claudia Bernhard: Bei den über 60-Jährigen haben wir sogar eine Erstimpfquote von mehr als 93 Prozent. In dieser Woche werden wir wahrscheinlich mehr als 75 Prozent der Bremerinnen und Bremer mindestens einmal geimpft haben. Sollten wir über 80 Prozent kommen, wäre das ein toller Wert. Bis zu 15 Prozent der Bevölkerung können aktuell nicht geimpft werden, weil sie jünger als zwölf Jahre alt sind, Vorerkrankungen haben, die eine Impfung nicht ermöglichen, schwanger oder aktuell von Corona genesen sind. Mehr als eine Impfquote von rund 85 Prozent lässt sich daher aktuell nicht erreichen. Alles in Richtung 80 Prozent ist demnach ein gutes Ergebnis.
Schnelle Termine für Impfwillige, gute Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, schneller Einsatz in Stadtteilen mit höherer Armut: Es gibt offenbar viele Gründe, warum Bremen bei der Impfung so erfolgreich ist. Was ist aus Ihrer Sicht der wichtigste Grund für den Erfolg?
Es gibt eigentlich nicht den einen wichtigsten Grund. Es war das sehr gute Zusammenspiel von vielen Akteuren, die kooperative Struktur. Die Hilfsorganisationen, die beteiligten Unternehmen und die Verwaltung über mehrere Ressorts hinweg haben sich auf ein Ziel verständigt, auf eine gemeinsame Aufgabe, alle Bremerinnen und Bremer so schnell wie möglich zu impfen.
Wie sind Sie bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen vorgegangen?
Die ersten 50 Prozent waren noch relativ einfach erreichbar. Wir haben uns sehr streng an die Priorisierung gehalten und haben fast alle Personen in den Prio-Gruppen individuell angesprochen: Die jeweils Impfberechtigten haben eine Impfeinladung per Post nach Hause bekommen. Mit dem enthaltenen Termincode konnte innerhalb weniger Tage ein Termin vereinbart werden. Das lief reibungslos, alle Bremerinnen und Bremer wussten, dass wir sie informieren, wenn sie an der Reihe sind. Es gab keine langen Wartelisten, keine überlasteten Hotlines. Mit Hilfe von mobilen Teams haben wir in Alten- und Pflegeeinrichtungen ganz zu Beginn zügig Impfangebote gemacht. Und dann gab es noch weitere, sehr wichtige Ergänzungen: Für alle über 80-Jährigen haben wir einen kostenlosen Taxidienst zum Impfzentrum eingerichtet. Darüber hinaus haben wir in Bremen-Nord ein kleines Impfzentrum eingerichtet, um ein wohnortnahes Angebot zu schaffen. Das war die Grundlage, auf die wir später aufbauen konnten.
Sie begannen mit einem zentralen Impfzentrum im Zentrum Bremens sowie einem in Bremerhaven, eröffneten zwischenzeitlich ein kleineres in Bremen-Nord. Wie ging es dann weiter?
Für den weiteren Erfolg war es dann ganz zentral, dass wir schon seit Mai dezentrale, niedrigschwellige Impfangebote gemacht haben. Wir haben in Stadtteilen, in denen es zuvor hohe Inzidenzen gab, Impfzentren für jeweils eine Woche eingerichtet. Zusätzlich sind seit Mitte Juni unsere Impfmobile im Einsatz: In verschiedenen Stadtteilen, am Weserstadion, an der Schlachte oder jetzt auch bei Konzerten. So können wir auf bestimmte Zielgruppen besser zugehen und schaffen für alle Bremerinnen und Bremer einfache Impfmöglichkeiten.
Und was waren in Bremen die größten Hindernisse bei der Impfkampagne, die Ihnen Kopfzerbrechen bereitet haben?
Für uns war der größte organisatorische Aufwand die geringe Impfstoffverfügbarkeit in der ersten Hälfte des Jahres. Wir hätten gerne viel schneller und viel mehr geimpft, das ging aber nicht, weil der Impfstoff fehlte.
Und wie haben Sie das gelöst?
Unsere Lösung bestand darin, dass wir die priorisierten Personen auch nur gestaffelt zu den Impfungen eingeladen haben. Und dann waren uns die Voraussetzungen in Bremen natürlich bekannt. Wir haben, als erste Großstadt in Deutschland, bereits im vergangenen Jahr analysiert, wie sich die Infektionen innerhalb der Stadt Bremen verteilen, wo leben also die Personen, die sich häufiger infizieren. Das Ergebnis war offensichtlich: In strukturell benachteiligten Stadtteilen, in Stadtteilen mit engen Wohnverhältnissen, vielen prekär Beschäftigten, großer Armut, dort leben diejenigen, die sich häufiger infizieren. Und genau dort sind wir mit unseren Impfangeboten seit Anfang Mai hingegangen. Erst mit den temporären Impfzentren, später mit den Impfmobilen. Das war in der zweiten Phase der Schlüssel zum Erfolg.
In Sachsen lockt man die Menschen bereits mit Bratwurst, Gutscheinportal oder Freikarten für Fußballspiele zum Impfen. Müssen Sie mittlerweile auf ähnliche Methoden zurückgreifen?
Meine Auswertung ist, dass Aufklärung und Information sowie leicht zugängliche Impfangebote das Entscheidende sind. Unsere Impfangebote werden weiterhin gut angenommen. Besonders das Impfangebot mit Hilfe der Impfmobile, mit denen wir derzeit in den Stadtteilen, aber auch bei Events stehen, werden gut angenommen. Wir sind sehr erfolgreich mit den einfachen, niedrigschwelligen Impfangeboten, mit Information und Aufklärung, auch in vielen verschiedenen Sprachen. Wir haben eine eigene Informationskampagne aufgelegt, mit der wir schon seit dem Frühjahr unsere Informationen auch über Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in ganz Bremen verteilt haben. Damit kommen wir immer noch gut voran, ich halte diese Lockangebote bis hin zu Verlosungen nicht für zielführend, und auch für ein zwiespältiges Signal.
Hat es ein Stadtstaat wie Bremen bei der Impfstrategie nicht auch einfacher als Bundesländer mit ländlichen, strukturschwachen Regionen?
Der wesentliche Vorteil ist nicht, dass das Bundesland kleiner ist, sondern dass wir als Stadtstaat den direkten Zugriff auf die kommunale Ebene haben, zumindest für Bremen. Meine Behörde konnte unmittelbar die Struktur aufbauen, wie geimpft wird, bis hin zu den Stadtteilkampagnen und Impfmobilen. Und wir haben eine sehr aktive und engagierte Zivilgesellschaft, die sich beteiligt hat. Gleichzeitig haben wir aber anteilig nicht mehr Impfstoff bekommen als die anderen Bundesländer. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten sind bei allen Ländern die gleichen.
Viele Sozialarbeiter in Stadtteilen mit einer ärmeren Bevölkerung haben in Bremen zum Erfolg der Impfkampagne beigetragen. War in Bremen im Vergleich zu anderen Bundesländern mehr Personal in die Impfkampagne involviert?
Wir haben uns schon vor Beginn der Impfungen entschieden, in Stadtteilen mit hohen Inzidenzen Gesundheitsfachkräfte einzusetzen. Die Gesundheitsfachkräfte informieren die Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort über alle Themen rund um Corona. Dazu gehören natürlich auch die Impfungen, da können wir bis heute auf schon bestehende Netzwerke aufbauen. Auch unser Quartiersmanagement und die Ortsämter sind mit eingebunden und eine tolle Unterstützung. Hinzu kommt, dass wir im Gesundheitsressort eine Kommunikationsstruktur aufgebaut haben, mit der wir innerhalb sehr kurzer Zeit alle komplexeren Fragen der Bürgerinnen und Bürger rund ums Impfen beantworten können. Also alle Fragen, die nicht schon in unserem Callcenter beantwortet wurden. Also ja, wir haben sicherlich viel Personal im Einsatz, meiner Meinung nach brauchen wir das aber auch, um die Menschen tatsächlich auf einer individuellen Ebene erreichen zu können.
Gab es in Bremen auch Zeiten, in denen die Impfkampagne gestockt hat - und falls ja, was waren die Gründe?
Es gab immer wieder neue Herausforderungen, sei es die Impfstoffknappheit, ausgefallene Impfstofflieferungen oder aktualisierte Empfehlungen der Ständigen Impfkommission. Wenn man eine Stadtteilaktion geplant hat und dann muss man kurzfristig auf einen anderen Impfstoff ausweichen, weil sich die Empfehlung geändert hat, dann kommt schon Hektik auf. Wir konnten aber immer schnell darauf reagieren, sodass die Impfkampagne nie ins Stocken geraten ist. Wir haben zu keinem Zeitpunkt Termine wieder absagen müssen, sondern konnten immer weiter impfen.
Sachsen hat die niedrigste Impfquote, aber aktuell mit 17,9 auch eine sehr niedrige Inzidenz. Bremen hat die höchste Impfquote, dafür eine Inzidenz von 65,1. Was könnten Gründe dafür sein?
Wir haben eine hohe Mobilität, viele Pendler, internationale Häfen und einen Flughafen – dass Corona in all seinen Varianten bei uns nicht mehr ankommt, davon können wir nicht ausgehen. Daher ist es absolut notwendig, dass wir immer wieder mit Maßnahmen reagieren und dass die Bevölkerung das auch mitgeht. Beim genauen Hinsehen fällt auf, dass die Neuinfektionen in Bremen zu einem sehr großen Teil die Gruppe der Ungeimpften treffen, auch die stationären Fälle spiegeln dieses Bild wider. Damit muss man leider rechnen: wer nicht geimpft ist, muss im Zweifel mit einer Infektion rechnen. Beim Blick auf die Bundesländer haben wir im Verlauf der Pandemie immer wieder gesehen, dass sich Neuinfektionen in der Bundesrepublik auch zeitlich unterschiedlich verteilen und natürlich spielen städtische Ballungsgebiete immer eine Rolle bei den Ansteckungsraten. Für uns in Bremen bleibt aber aktuell der Blick in unsere Kliniken wichtig, aber auch auf die Zahl der Neuinfektionen, weil das ein Frühindikator ist und bleibt.
In Sachsen bereiten auch Impfgegner und Corona-Leugner Probleme, die man schwer von einer Impfung überzeugen kann. Hatten Sie in Bremen ähnliche Probleme. Und wie haben Sie diese gelöst?
Wir haben in Bremen tatsächlich kaum Probleme mit Impfgegnern oder Corona-Leugnern gehabt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir umfangreich und ausgewogen informiert haben, viele Akteurinnen und Akteure in den Stadtteilen eingebunden haben. Aber ich muss auch den Bremerinnen und Bremern ein Kompliment machen, das solidarische Verständnis für die Notwendigkeit eines möglichst großen Impfschutzes ist hier sehr ausgeprägt. Es hat uns sehr geholfen, dass sich Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen als Multiplikatoren beteiligt haben – oder einfach ihre Bekannten und Nachbarn im Gespräch überzeugt haben.
Wenn Sie die Impfkampagne in anderen Bundesländern sehen: Warum liegen viele Bundesländer vor allem in Ostdeutschland weit hinten, was läuft da falsch? Was raten Sie den dortigen Ministerpräsidenten?
Wir haben gesehen, was in Bremen gut funktioniert hat: direkte Ansprache, niedrigschwellige Angebote, umfangreiche Informationen, und eine kooperative Struktur. Das ist der Schlüssel und das funktioniert sicherlich nicht nur in Bremen.
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