- Eigentlich gilt die Generaldebatte zum Kanzlerhaushalt als die Stunde der Opposition, doch nicht in diesem Jahr: Kanzlerin Angela Merkel hat sich mit einer emotionalen Rede an die Bevölkerung gewandt.
- Kommunikationsexperte Johannes Hillje analysiert die ergreifende Rede - voller Emotionalität, strategisch eingesetzt, in der letzten großen Krise während Merkels Kanzlerschaft.
Selten hat sie sich in ihrer Amtszeit so emotional gezeigt:
Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland erneut einen Höchststand erreicht. Die Gesundheitsämter meldeten dem Robert Koch-Institut (RKI) 23.679 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden. Sie wisse um die Härte der Maßnahmen für viele in der Vorweihnachtszeit und es tue ihr "wirklich im Herzen leid", hatte Merkel vor Abgeordneten aller Fraktionen gesagt. 590 Tote am Tag seien nicht akzeptabel.
Experte Hillje: "Eine der emotionalsten Reden"
"Es war eine der emotionalsten Reden von Merkel", sagt Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje. Gefühle dosiert die Kanzlerin behutsam: "Merkel wurde in ihrer Amtszeit immer dann emotional, wenn sie in besonderer Weise auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen war", so der Experte. Auch während der Eurokrise und der Flüchtlingsaufnahme habe sie emotional appelliert.
Am Mittwoch war dieser Appell besonders eindringlich. So sagte die Kanzlerin, spürbar mitgenommen durch die stets zähen Verhandlungen mit den Ländern: "Und wenn uns die Wissenschaft geradezu anfleht, vor Weihnachten, bevor man Oma und Opa und ältere Menschen sieht, eine Woche der Kontaktreduzierung zu ermöglichen: Dann sollten wir vielleicht doch noch mal nachdenken, ob wir vielleicht irgendeinen Weg finden, die Ferien nicht erst am 19. beginnen zu lassen, sondern vielleicht schon am 16.?" Den Tränen nah fragte sie im Bundestag "Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden?"
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"Leben-oder-Tod-Narrativ" und strategische Emotionalität
Experte Hillje hat die Rede der Kanzlerin live verfolgt. "Merkel hat lebensweltlich argumentiert, Werte angesprochen und ein Leben-oder-Tod-Narrativ verwendet", analysiert er. Merkels Emotionalität ist Hillje aber auch über den Inhalt hinaus aufgefallen. "Emotionalität entsteht aus der Kombination von Rhetorik, Stimmlage, Mimik und Körpersprache. Ihren dramatischen Appell hat sie durch bittende Handgesten, Pochen aufs Rednerpult und wechselnde Stimmlagen wirkungsvoll unterfüttert", sagt Hillje. Selten habe in Merkels Reden Form und Inhalt derart gut miteinander korrespondiert.
Außerdem mache sie von Emotionalität als Stilmittel selten Gebrauch, das habe ihren jetzigen Aussagen besonderen Nachdruck verliehen. "Emotionalität hat in Merkels Reden das Merkmal der Besonderheit, was zu erhöhter Aufmerksamkeit führt. Wer Emotionalität in der Politik wohl dosiert, kann sie strategisch zum richtigen Zeitpunkt wirkungsvoll einsetzen", erklärt Hillje. Merkel habe genau das getan.
Letzte große Krise von Merkels Kanzlerschaft
Aber ist die Emotionalität nur Strategie gewesen, oder lässt sich auch herauslesen, wie sehr Merkel die Bekämpfung der Pandemie am Herzen liegt? Über die Gefühlswelt der Kanzlerin sagt Experte Hillje: "Die Pandemiebekämpfung ist vermutlich die letzte große Krise in Merkels Kanzlerschaft. Sie wird einen großen Einfluss auf die Bewertung ihrer gesamten Kanzlerschaft haben." Zudem liege Merkel als Naturwissenschaftlerin das Thema grundsätzlich nahe, weil sie mit wissenschaftlichen Modellrechnungen viel anfangen könne. "Als Naturwissenschaftlerin hat Merkel kein Verständnis für das Herunterspielen der aktuellen Lage", ist sich Experte Hillje sicher.
Vermutlich deshalb betont die Kanzlerin auch stets den wichtigsten Schlüssel zur erfolgreichen Pandemiebekämpfung: "das verantwortliche Verhalten jedes Einzelnen und die Bereitschaft zum Mitmachen", so Merkels Worte. Kommunikationsexperte Hillje hat dabei beobachtet: "Am wenigsten hat Merkel in der Rede die Abgeordneten im Parlament adressiert und am meisten die Bevölkerung und zwischendurch auch die Ministerpräsidenten."
Ungewöhnliche Aussprache
Ebenfalls ungewöhnlich an Merkels Rede: Es ist üblich, dass die Aussprache über den Etat des Kanzleramtes nicht nur das Thema Haushalt behandelt. Normalerweise nutzt die Opposition die Debatte, um die Regierung zu kritisieren und jene reagiert darauf.
Merkels Rede wehrte jedoch weniger Vorwürfe der Opposition ab. Vielmehr richtete sie sich an die Gesamtgesellschaft. "Merkel weiß, dass ihre wichtigste Ressource in der Pandemiebekämpfung die Umsetzung der Maßnahmen durch die Bevölkerung ist", erklärt Hillje. Darauf habe ihre Rede in erster Linie abgezielt. "Gleichzeitig hat sie die Bevölkerung auf schärfere Schutzmaßnahmen eingestimmt und die Ministerpräsidenten unter Druck gesetzt", so Hillje. Nun bleibt Merkel wohl vor allem eins: Zu hoffen, dass ihre Rede Früchte trägt.
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