Die Corona-Lage in Deutschland scheint sich stabilisiert zu haben, weshalb der Virologe Hendrik Streeck einige Vorschläge zum künftigen Umgang mit der Pandemie gemacht hat. Bei einigen Experten sorgt der Vorstoß jedoch für Unverständnis.
Der Bonner Virologe
Zwar steige die Zahl der positiv getesteten Menschen in Deutschland und Europa signifikant an. "Gleichzeitig sehen wir aber kaum einen Anstieg der Todeszahlen."
Grundsätzlich sollten laut Streeck Infektionen zwar verhindert werden. Die Zahlen könnten jedoch anders interpretiert werden: "Gesellschaftlich betrachtet sind Infektionen mit keinen Symptomen nicht zwangsweise schlimm. Je mehr Menschen sich infizieren und keine Symptome entwickeln, umso mehr sind – zumindest für eine kurzen Zeitraum – immun. Sie können zum pandemischen Geschehen nicht mehr beitragen", sagte Streeck.
Ihm zufolge könne man deshalb "das Leben ja nicht pausieren lassen". Streeck meint: "Wir können nur ausprobieren – und wir müssen auch Fehler machen dürfen." Doch Experten kritisieren den Vorstoß scharf.
Virologin Eckerle: "Bizarre Aussage"
Die Virologin Isabella Eckerle, die das Zentrum für Viruserkrankungen an der Universität Genf leitet und als SARS-CoV-2-Expertin gilt, warnt vor Streecks Vorschlag, den sie auf Twitter als "bizarre Aussage" bezeichnete.
"Erfahrungen aus anderen Ländern mit ähnlicher Epidemiologie (wie wir im Moment) zeigen, dass Todesfälle mit einigen Wochen Verzögerung auftreten", erklärt Eckerle. Ihre zufolge sei es besser, im kommenden Winter bezüglich der Pandemie auf Nummer sicher zu gehen.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe
Der Politiker betont: "SARS-Cov-2 ist nicht harmloser geworden, dafür gibt es keine Evidenz. Neue schützende Kreuzimmunität oder Herdenimmunität gibt es auch nicht." Aus Lauterbachs Sicht gebe es keinerlei medizinische Fortschritte die ein Nachlassen erlauben würden.
Derzeit vor allem junge Leute infiziert
Fakt ist: Nach einem Anstieg der Fallzahlen in Deutschland seit Mitte Juli, hat sich die Situation laut Robert-Koch-Institut (RKI) zuletzt stabilisiert. Die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur Zahl der Infektionen ist gegenwärtig sogar rückläufig.
Das RKI und der Berliner Virologe
"Aber das ist eine Frage von ein paar Wochen, dann werden die Älteren wieder infiziert. Und dann sind die Intensivstation wieder dran. Das muss man im Vorgriff verhindern und nicht erst in der Situation." Das sagte Drosten in seinem NDR-Podcast bereits Anfang September unabhängig von Streecks jetzigem Vorschlag.
Verkürzte Isolierung und Quarantänezeit
Im Hinblick auf den künftigen Umgang mit der Coronavirus-Pandemie hatte allerdings auch Christian Drosten von der Berliner Charité kürzlich Änderungsvorschläge gemacht – für die Isolierung infizierter Personen und die Quarantäne von Verdachtsfällen.
Infizierte sollten ab dem Zeitpunkt der Diagnose noch fünf Tage in Heimisolierung gehen. "Dann erfolgt eine Testung und bei niedriger Viruslast eine Aufhebung der Isolierung", erklärte Drosten. Dies gelte bei milden Fällen mit geringem Risiko der Verschlechterung.
Bei Verdacht auf eine Infektion, also wenn jemand keine Symptome hat und noch nicht getestet wurde, gebe es derzeit auf EU-Ebene Diskussionen, die Quarantäne Zeit von 14 auf 10 Tage zu verkürzen. "Ich denke, das geht. Ich kann mir auch vorstellen, dass man sogar noch ein paar Tage weiter reduzieren kann, zum Beispiel auf sieben Tage."
Einige Infektionen würde man dann verpassen. "Wie viele verpasste Infektionen man zulassen will, ist eine politische Entscheidung."
Ebenso befürwortet Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung eine Verkürzung der Quarantäne. "Wie lange genau hängt davon ab, wie viel Sicherheits- beziehungsweise Gewissheits-Bedürfnis die Behörden haben." Das gelte aber nur für asymptomatische Kontaktpersonen.
Strategiewechsel mit Schnelltests
Streeck selbst wies darauf hin, dass niemand – kein Politiker, kein Virologie, kein Epidemiologe – den einen, richtigen Weg im Umgang mit der Pandemie kenne. Ein Bestandteil seines Strategiewechsels sind sogenannte Antigen-Schnelltests: Mit denen sei es möglich, eine Infektion innerhalb von wenigen Minuten festzustellen. Solche Tests seien nur Momentaufnahmen, genügten aber, wenn Pflegepersonal in Heimen und Kliniken regelmäßig getestet würden, sagte Streeck.
Perspektivisch könnten auch Besucher auf diese Weise getestet werden. "Man mag sich eine Security-Schleuse am Eingang des Pflegeheims vorstellen. Es wird getestet, und ein Ergebnis liegt innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten vor. Menschen würden so nicht weggesperrt, aber viel besser geschützt."
Probleme mit Antigen-Schnelltests
Zahlreiche solcher Tests befinden sich derzeit in Entwicklung, einige sind bereits erhältlich. Das Problem: "Es gibt einige zugelassene Produkte, aber die sind nicht in ausreichender Menge lieferbar. Die sind zum Teil schon wieder ausverkauft", sagte Drosten in seinem Podcast. In einigen Monaten werde sich das aber ändern.
Derzeit arbeite man laut Drosten daran, dass die Produktionsmöglichkeiten hochgefahren werden, sodass die Tests, die wie Schwangerschaftstest funktionieren würden, in ausreichender Menge zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich seien solche Schnelltests aber mit Bedacht zu bewerten, erklärte Matthias Orth, Chefarzt des Instituts für Laboratoriumsmedizin im Marienhospital in Stuttgart. "Ein Antigen-Test ist nie so genau wie ein PCR-Test." Schnelltests seien in manchen Bereichen eine sinnvolle Ergänzung, könnten aber die PCR-Testung nicht ersetzen. (afp/dpa/mf)
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