Seit Ende Mai hat Spanien kaum mehr neue Corona-Tote vermeldet. An vielen Tagen gab es laut Behörden nur einen oder sogar gar keinen Fall. Vom Coronavirus-Hotspot zum vorgeblich sicheren Reiseziel innerhalb kürzester Zeit – wie kann das sein?
Am dritten Tag in Folge hat Spanien am Montag nur einen einzigen neuen Corona-Toten vermeldet. Bereits am vergangenen Dienstag hatte das Gesundheitsministerium mitgeteilt, in den vergangenen 48 Stunden sei in dem Land niemand an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben. Spaniens Premierminister Pedro Sánchez feierte die Null im Parlament als "eine Errungenschaft von allen".
Vom Coronavirus-Hotspot zum vorgeblich wieder sicheren Reiseziel innerhalb kürzester Zeit – wie kann das sein? In den vorangegangenen Wochen hatten Spaniens Behörden noch zwischen 50 und 300 Corona-Toten pro Tag vermeldet. Nun sollen die Zahlen fast auf Null zurückgegangen sein? Für den auffälligen Trend gibt es vor allem eine Erklärung: eine neue Zählmethode der Regierung.
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Spaniens "doppelte Buchführung"
Spanien beklagte am 13. Februar seinen ersten Corona-Toten, mittlerweile sind es 27.136 Todesfälle und fast 290.000 Infektionen. Damit zählt Spanien zu den am schwersten von der Corona-Pandemie getroffenen Ländern weltweit. Die Regierung verhängte daher den Notstand und erließ am 14. März eine der strengsten Ausgangssperren weltweit. Das dürfte sich durchaus positiv auf die Entwicklung ausgewirkt haben.
Der Hauptgrund für die extrem niedrigen neuen Todeszahlen ist aber ein anderer: Spanien hat am 25. Mai die Erfassungsmethode grundlegend geändert. Die Behörden begründeten den Schritt damit, dass das neue Datenerfassungssystem ein besseres Bild der Pandemie liefern würde.
Zum einen wird seitdem bei einem Corona-Todesfall der Zeitpunkt gezählt, an dem ein Infizierter gestorben ist – und nicht mehr das Datum, an dem die Behörden informiert wurden.
Zum anderen führt die spanische Regierung nun nicht mehr die Zahl der Todesfälle in den vergangenen 24 Stunden auf. Die Gesamtzahl der Todesfälle wird nur noch einmal pro Woche aktualisiert. Und neue Todesfälle werden nur dann in die laufende Gesamtzahl aufgenommen, wenn sie in den 24 Stunden vor jedem täglichen Bericht aufgetreten sind. Deshalb führt der aktuellste Bericht auch lediglich einen neuen Todesfall für den Sonntag auf.
Wie "El País" berichtet, wurden aber zeitgleich 71 Tote früheren Daten zugeordnet – die Gesamtzahl der Toten erhöhte sich trotzdem nur um eins. Die spanische Tageszeitung nennt das Vorgehen "doppelte Buchführung".
"Falsches Gefühl der Sicherheit"
"Die Zahlen machen uns verrückt", sagte Jeffrey Lazarus, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitssysteme am Barcelona Institute for Global Health, der "Financial Times". Die niedrigen Zahlen würden ein "falsches Gefühl der Sicherheit in der Bevölkerung" erzeugen, so Lazarus.
Die Ergebnisse der neuen Zählweise bezeichnete der spanische Statistiker und Politikanalyst Kiko Llaneras schon Ende Mai in einer "El País"-Kolumne als "Unsinn" und "Chaos".
Am Tag nachdem die Regierung die Zählmethode änderte, fiel die Gesamttotenzahl plötzlich um fast 2.000 Fälle. Es gebe zu 100 Prozent ein Datenproblem, bemerkte Lazarus. Aus Sicht des Parteichefs der oppositionellen Partido Popular (Volkspartei), Pablo Casado, versucht Sánchez' Regierung die Zahlen zu schönen. "Sie verstecken die Toten, um Ihre Inkompetenz zu verbergen", klagte Casado den Regierungschef laut "The Telegraph" an.
Um ein Viertel höhere Übersterblichkeit
Tatsächlich zeigen Zahlen des Nationalen Statistikinstitutes eine um 24 Prozent höhere Übersterblichkeit in den ersten 21 Wochen des Jahres im Vergleich zu 2019. Demnach starben in Spanien etwa 44.000 Menschen mehr als üblich.
Um die Statistiken der verschiedenen Regionen zu vereinheitlichen, erfasst das Gesundheitsministerium seit April auch nur noch die Todesfälle positiv getesteter Patienten. Mehrere Regionen kritisieren, dass Tausende Todesfälle auf diese Weise nicht in der offiziellen Corona-Statistik auftauchen.
Spaniens Regierung verteidigte hingegen das Vorgehen: Es sei wichtiger, sich auf neue Fälle zu konzentrieren sowie Ausbrüche schnell zu erkennen, als die Todesfälle zu berechnen. Mit Blick auf die Änderungen in der Methode gestand Gesundheitsminister Salvador Illa aber: "Es kann, und da bin ich mir sicher, einige Fehler geben."
Die positiven Zahlen sind allerdings gut fürs Geschäft. Spanien will zum 1. Juli die Grenzen öffnen. Der Corona-Hotspot bereitet sich intensiv darauf vor, wieder Millionen sonnenhungriger Urlauber zu empfangen. Der Tourismus ist für die wirtschaftliche Erholung des südeuropäischen Landes von entscheidender Bedeutung: Die Branche trägt mehr als 12 Prozent zum Nationaleinkommen bei – in keinem anderen europäischen Land ist der Anteil höher.
"Wir werden garantieren, dass die Touristen keine Risiken eingehen werden und auch, dass sie keine Risiken für uns verursachen", betonte Sánchez erst kürzlich. Es gebe ihm zufolge "keinen Konflikt zwischen Gesundheit und Geschäft".
Verwendete Quellen:
- Mit Material von der Nachrichtenagenturen AFP und dpa
- New York Times: "Spain Coronavirus Map and Case Count"
- Our World in Data: "Spain: Coronavirus Pandemic"
- El País: "Spain’s regions report 2,053 new coronavirus cases in a week, up 87 from day before"
- El País: "Spain’s National Statistics Institute registers 44,000 excess deaths in first five months of the year compared to 2019"
- El País: "La semana negra de los datos oficiales sobre el coronavirus"
- Financial Times: "Flawed data casts cloud over Spain’s lockdown strategy"
- The Telegraph: "Spain accused of hiding its true death toll as it asks tourists to come back"
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