Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der ehemalige "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger, wieso die Sorge vor neuen Schulden unberechtigt ist, warum Reisen in Zukunft teurer sein wird und was er von Vorlesungen über "Zoom" hält.
Herr Bofinger, Sie unterrichten Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg, wo nun das Semester angefangen hat. Werden Ihre Vorlesungen stattfinden können?
Peter Bofinger: Ich habe erstmals eine Vorlesung mit 300 Teilnehmern über Zoom gehalten und über die Auswirkungen von Corona aus volkswirtschaftlicher Sicht gesprochen. Mein empirischer Befund: Die Studenten diskutieren wacker mit, sogar mehr als bei einer Präsenzvorlesung. Offenbar liegt die Hemmschwelle niedriger, vom Schreibtisch aus Fragen zu stellen, als im Hörsaal. Ich selbst habe nach wie vor mehr Spaß daran, meine Studenten persönlich zu unterrichten.
Ein Effekt der Coronakrise könnte sein, dass unsere Mobilität abnimmt und Videoschalten zum Regelfall werden. Nicht umsonst haben sich die Börsenwerte der Tourismusunternehmen und Fluggesellschaften in den letzten Wochen geradezu verpulverisiert.
Daran glaube ich nicht. Die Reiselust der Menschen wird Corona überstehen, wir werden sogar Nachholeffekte erleben. Bei allen ökologischen Schattenseiten ist unser Reiseverhalten ja eine Errungenschaft und ein sozialer Gewinn. Es wäre jammerschade, wenn wir uns nicht mehr so einfach besuchen könnten. Wir werden uns aber vorerst auf steigende Preise einstellen müssen, wenn die Fluggesellschaften ihre Mittelplätze freilassen müssen, beim Check-in Antikörper getestet werden und an Bord eine Maskenpflicht herrscht.
Dient die Krise als Trendbeschleuniger für grüne Nachhaltigkeit und die Digitalisierung?
Corona verleiht der Digitalisierung sicherlich einen Schub. Wir lernen gerade schmerzhaft, dass sich viele Dinge virtuell regeln lassen und mancher Workshop, für den wir bislang Hunderte Kilometer durch die Lande gereist sind, auch per Videokonferenz machen lässt. Die Schwelle, bei der wir in Zukunft Reisekosten und Zeitverluste in Kauf nehmen, wird nach Corona höher liegen. Bei der Nachhaltigkeit sehe ich zwei Szenarien. Wir haben in Deutschland eine Schuldenbremse, die Schuldenmachen in Krisensituationen erlaubt, aber für die Zeit danach den Schuldenabbau vorsieht. Nach derzeitiger Rechtslage müssen Bund und Länder deshalb im nächsten Jahrzehnt sparen. Damit drohen auch Investitionen in die Infrastruktur und erneuerbare Energien unter die Räder zu kommen. Unternehmen, die ums Überleben kämpfen, könnten in diesem Szenario auf Ausnahmen bei Abgasvorschriften oder der Dekarbonisierung hoffen. Das wäre der negative Fall.
Und Ihr Positivszenario?
Wir würden Corona als Weckruf begreifen, dass das Leben auf diesem Globus fragil ist und wir nicht warten können, bis Katastrophen einschlagen, gegen die wir kaum mehr ankommen. Wir würden den Klimawandel morgen energisch angehen und nicht erst in zehn Jahren, mit dem Wissen, dass große Staaten große finanzielle Spielräume, auch bei der Bewältigung der Klimakrise, haben. Es ist klug, Schulden zu machen, wenn wir in die Zukunft investieren.
Nach den milliardenschweren Rettungspaketen der letzten Wochen dürfte das Gebot der nächsten Jahre ja wohl eher die Rückkehr zur Schwarzen Null sein.
Nach dieser Logik müssten wir in den nächsten Jahren sogar ein schwarzes Plus machen, um die Schulden abzubauen. Hätten wir nach der deutschen Einheit so gehandelt …
… damals stieg das Haushaltsdefizit um knapp 100 Milliarden D-Mark innerhalb eines Jahres …
… hätten wir in den Jahren danach eine Katastrophe erlebt. Der Bund hätte in diesem Szenario noch bis 2010 Schulden tilgen müssen und die Konjunktur wäre in der ersten Hälfte der 2000er Jahre eingebrochen. Wenn Corona überstanden ist, sollte sich die Politik nicht als Erstes mit der Frage beschäftigen, wie wir diese Schulden wieder tilgen.
Das Beispiel Italien zeigt, dass eine hohe Verschuldung auch hohe Risiken birgt.
Für Staaten, die sich nicht in ihrer Landeswährung verschulden können, ist das Schuldenmachen in der Tat komplizierter. Aber deshalb wird ja gerade darüber diskutiert, ob wir im Euroraum die Verschuldung auf europäischer Ebene stemmen sollten, Stichwort Coronabonds. In Deutschland haben wir aktuell eine Schuldenstandsquote von 60 Prozent. Die USA und Frankreich kommen auf 100 Prozent, Japan wird in dieser Krise sogar 250 erreichen. Keines dieser Länder hat derzeit Probleme, zusätzliche Schulden aufzunehmen. Die Verschuldungsmöglichkeiten von Staaten sind größer als mancher denkt.
Unsere Kinder und Kindeskinder sollten sich nach Ihrer Logik also keine Sorgen machen. Wir können prassen, ohne dass kommende Generationen dafür zahlen müssen.
Genau, wir legen die Schulden auf die Bilanz der Notenbanken – und dann ist gut. So haben es die Amerikaner nach der Finanzkrise gemacht. Der Staat hat sich, finanziert über Staatsanleihen, an den Banken beteiligt und so die Verschuldung aus dem Bankensystem genommen.
Zum jetzigen Zeitpunkt werden massive Summen in den Markt gespült. Die EZB hat beispielsweise ein 750 Milliarden Euro schweres Pandemie-Notfall-Kaufprogramm aufgesetzt. Droht kurzfristig eine Monster-Inflation?
Im Gegenteil: Wenn der Ölpreis nicht bald steigt, rechne ich sogar mit einem deflationären Effekt. Die Notprogramme dienen dazu, den wirtschaftlichen Einbruch abzufedern, der Konsum ist überwiegend von Zurückhaltung geprägt. Für eine Inflation müssten die Menschen mehr Geld haben als bisher. Diese Gefahr sehe ich derzeit nicht.
Aus der Politik kommt die Forderung, in Zukunft wieder mehr im Inland zu produzieren. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Frankel warnt sogar vor einer "Deglobalisierung in Richtung wirtschaftlicher Abkopplung". Nähen wir unsere T-Shirts bald wieder selbst?
Globalisierungsverzicht heißt Verzicht auf Wohlstand. Gerade Deutschland, wo die Exportanteile deutlich höher liegen als in vergleichbaren Staaten, wäre von solchen Planspielen am meisten betroffen. Ich glaube kaum, dass wir die nächste Pandemie verhindern, indem wir unsere Produktion großflächig ins Inland verlagern. Schon im Mittelalter hat sich die Pest verbreitet, obwohl die Globalisierung weniger fortgeschritten war als heute. Wenn man den Reiseverkehr nicht vollständig unterbinden will, werden auch in Zukunft Menschen Viren übertragen. Mit dem Verzicht auf Globalisierung lässt sich das nicht verhindern.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat vor kurzem noch erklärt, dass kein einziger Job durch die Krise gefährdet wird. Mittlerweile haben zwei große Restaurantketten Insolvenz angemeldet, viele weitere mittelständische Unternehmen werden nicht mehr aufsperren. War das Versprechen in der Rückschau klug?
Es war zumindest der Versuch, ein wenig Optimismus inmitten aller Katastrophenmeldungen zu verbreiten. Dafür würde ich ihn nicht verurteilen. Das Kurzarbeitergeld, das diesem Versprechen zugrunde liegt, hat ja in der Finanzkrise erfolgreich verhindert, dass die Arbeitslosigkeit signifikant gestiegen ist. Jetzt erleben wir wieder, dass die Arbeitslosenzahlen vergleichsweise wenig ansteigen. Insofern hat sich die Bundesregierung bislang sehr handlungsfähig gezeigt. Vieles wird jetzt davon abhängen, wie lange der Shutdown andauert.
Experten sprechen von drei Modellen der wirtschaftlichen Erholung: Die V-Kurve, bei der auf einen kurzen Einbruch der Wirtschaftsaktivität eine rasche Aufholjagd folgt. Die U-Kurve, bei der der Aufschwung nach einer Reihe schwacher Quartale erfolgt. Und die gefürchtete L-Kurve, bei der sich die Grundlagen für den Wohlstand der gesamten Welt auf lange Sicht verschlechtern. Mit welcher Form der Erholung rechnen sie?
Ich halte die Prognosen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Mehrzahl der Forschungsinstitute für viel zu optimistisch, die ja annehmen, dass wir bis Ende des Jahres wieder Normalbetrieb haben. Ich rechne eher mit einem sehr flachen V. Zum einen wird vorerst die Unsicherheit wie ein Mehltau über der Wirtschaft liegen. Und selbst wenn morgen wieder alle Maschinen anliefen, würden sich Investoren und Verbraucher so lange zurückhalten, bis Corona medizinisch unter Kontrolle ist.
Würde ein zweiter Shutdown die Wirtschaft strangulieren?
Es wäre eine Katastrophe. Aber auch in Zukunft wird kein Politiker am Primat der Gesundheitsvorsorge vorbeikommen und sagen können, wir lassen die Menschen sterben. Keinem Land ist es gelungen, mit laschen Mitteln durch diese Krise zu segeln. Eher umgekehrt: Diejenigen, die am Anfang zu passiv waren, haben jetzt massive Probleme. Die Abwägungen der Bundesregierung halte ich bislang für richtig.
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