Ein Stromausfall ist immer eine unangenehme Situation. Doch wenn der Strom in ganz Deutschland für mehrere Tage ausfallen würde, könnten die Folgen verheerend sein. Doch wie wahrscheinlich ist so ein Szenario und wie vorbereitet ist Deutschland auf einen totalen "Blackout"? Ein Interview mit Christoph Unger, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.

Ein Interview

Herr Unger, ist ein kompletter Stromausfall in Deutschland denkbar, der für mehrere Tage oder gar eine Woche anhält?

Mehr Panorama-News

Christoph Unger: Wir gehen nicht davon aus, dass es zu einem kompletten Ausfall kommen kann. Die Stromversorgung in Deutschland ist in vier Regelzonen aufgeteilt, die voraussichtlich nicht gleichzeitig betroffen sein würden – aber eine Zone wäre ja auch schon schlimm genug.

Wie könnte es zu solch einem flächendeckenden Ausfall kommen?

Ursachen könnten zum Beispiel umgestürzte Masten sein, etwa nach einem heftigen Sturm. Aber auch sogenannte Cyberattacken, wie wir sie zwischen Russland und der Ukraine erlebt haben, sind möglich, wo auf einen Schlag 27 Umspannwerke ausfielen und Hunderttausende Menschen in sehr vielen Städten ohne Strom waren.

Auch Terroranschläge wären vorstellbar – sie müssten sich gegen zentrale Elemente der Versorgungsnetze richten, also nicht auf einzelne Strommasten, sondern auf Knotenpunkte gerichtet sein. Das wäre aber nicht einfach zu bewerkstelligen.

Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) erklärt, die Netzbetreiber müssten "immer häufiger ins Stromnetz eingreifen, um Ausfälle zu verhindern". Können diese sogenannten "Redispatches" eine Krise hervorrufen, einen Stromausfall größeren Ausmaßes?

Von einem Redispatch sprechen wir, wenn eine Engpasssituation entsteht und infolge dessen Kraftwerke hoch- und heruntergefahren werden müssen. Im Extremfall könnte das einen Dominoeffekt bewirken – eine Kettenreaktion, in deren Folge immer mehr Leitungen und Netze ausfallen.

Solch einen Vorfall hat es bei uns im Jahr 2006 gegeben: Eine Stromleitung über der Ems musste wegen der Durchfahrt eines großen Kreuzfahrtschiffes abgeschaltet werden. Durch technisches sowie menschliches Versagen kam es dabei zu einem Stromausfall, in dessen Folge quer durch Europa Netze ausgefallen sind – bis hinunter nach Andalusien.

Heute haben wir immer wieder Redispatches, wenn die Einspeisungen aus den Solaranlagen nachlassen und konventionelle Kraftwerke zugeschaltet werden müssen. Also beispielsweise bei Windflauten.

Unser Stromnetz ist darauf ausgelegt, den Strom gleichmäßig und in einer bestimmten Frequenz zu transportieren. Wenn Komponenten sich unerwartet ändern, kann es Probleme geben, dann könnten Dominoeffekte dazu führen, dass automatisch immer weitere Teile ausfallen.

Wir haben ein großes, historisch gewachsenes, in Nord-Süd-Richtung verlaufendes Stromnetz. Mit dem war bei gleichmäßigen Strommengen die Versorgung leicht aufrechtzuerhalten – heute muss man häufiger eingreifen.

Obwohl sich die Entwicklung zu neuen, regenerativen Stromquellen nach und nach vollzogen hat, ist dieser Wechsel immer noch problematisch.

Ebenso ist der Transfer von großen Strommengen quer durch Europa nicht unproblematisch – das Netz hat sich zum Marktplatz für Strom entwickelt, und das führt immer öfter zu starken Schwankungen.

Noch einmal: Ist ein gravierender Zwischenfall wahrscheinlich?

Nein, langanhaltende und großräumige Stromausfälle sind nicht wahrscheinlich. Aber ein Worst-Case-Szenario ist denkbar und wir müssen uns deshalb damit beschäftigen.

Die Versorgung bei uns ist sehr sicher – auch im Vergleich mit anderen Ländern. Das Risiko wächst aber auch deshalb, weil die Abhängigkeit der Gesellschaft vom Strom immer weiter zugenommen hat.

Wie kann sich die Gesellschaft auf den "worst case", also auf so einen "schlimmsten Fall" vorbereiten?

Wir arbeiten dran. Spätestens seit der Studie des Büros für Technikfolgen-Abschätzung ist das Bewusstsein für das Risiko eines flächendeckenden, anhaltenden Stromausfalls da.

Das ergibt für uns ganz, ganz viele Baustellen. Wir üben alle Szenarien. 2004 hatten wir eine erste Übung auf der strategisch-politischen Ebene.

Seitdem arbeiten wir intensiv daran, geben Erkenntnisse weiter, schulen Stäbe und Landkreise und Städte, versuchen die Bürger und Bürgerinnen zu sensibilisieren, arbeiten mit den Netzbetreibern zusammen.

Es ist sicherlich ein sehr dickes Brett, das wir da bohren – und ich kann nicht sagen, dass wir schon optimal vorbereitet sind.

Würden Sie sich mehr politische Unterstützung wünschen?

Es gab eine Zeit, als in der Politik die Meinung geherrscht hat, dass so ein großer Stromausfall nicht eintreten kann. Aber mittlerweile ist Bewegung reingekommen, nicht nur im rechtlich-gesetzlichen Bereich, sondern auch bei der praktischen Umsetzung.

2015 wollten wir eine große Übung in Norddeutschland machen – die ist leider ausgefallen wegen der Flüchtlingskrise. Wichtig ist: Politisch wird das Problem mittlerweile gesehen.

Es gibt viele Ansatzpunkte, an denen wir arbeiten, bis hin zur Diskussion mit Ministerien und Versorgern. Etwa darüber, ob wir mehr gesetzliche Regelungen für die Vorsorge brauchen, zum Beispiel was die Vorhaltung von Notstromaggregaten, Treibstoffvorräten etc. anbelangt.

Ein Grundproblem bei Stromausfall ist die Kommunikation. Man kann sich schwer vorstellen, wie koordinierte Hilfsmaßnahmen funktionieren sollen, wenn die vielen zuständigen Behörden nicht mehr miteinander telefonieren können.

Wir haben dringend empfohlen, dass alle Behörden zusätzlich Satellitentelefone anschaffen. Man kann sich vorbereiten. Wir sagen: Wir müssen uns vorbereiten!

Unsere Strukturen in Deutschland sind nicht einfach: Es gibt 16 Länder, 400 Katastrophenschutzbehörden, 12.000 Gemeinden mit 24.000 freiwilligen Feuerwehrleuten. Dazu kommen fast alle föderal organisierten privaten Hilfsorganisationen.

Ein Chaos wie etwa beim Hurrikan Katrina 2005 in den USA wäre bei uns aber nicht möglich. Dort mussten die Menschen teilweise tage- und wochenlang auf die Nationalgarde warten, sodass es auch zu Unruhen und Plünderungen kam.

Die Strukturen hierzulande sind zwar komplex, aber sie sind auch leistungsfähig und stabilisierend.

Kann es sein, dass das Fortbestehen unserer Gesellschaft im Falle eines (wenn auch äußerst unwahrscheinlichen) "unglücklichen Zufalls" sozusagen am "seidenen Faden" hängt? Dass sich nach einer Woche im stromlosen Chaos die Zivilisation auflöst?

Nein! Richtig ist, dass Strom unser Lebenselixier ist. Aber wenn er ausfällt, ist die Wiederherstellung des Normalzustandes nur eine Frage der Zeit!

Christoph Unger, Jahrgang 1958, ist Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Der Katastrophenschutz in Deutschland ist zwar Ländersache, doch Ungers Behörde mit 365 Mitarbeitern ist für die Koordination und strategische Ausrichtung der damit befassten Institutionen von entscheidender Bedeutung.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.