Die "Wanna Cry"-Attacke vom Freitag hat gezeigt, wie angreifbar die Welt ist. Was wäre, wenn ein Cyber-Angriff nicht nur die Anzeigetafel der Bahn, sondern das komplette Stromnetz lahmlegen würde?

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Experten beschäftigt diese Frage. Die erschreckende Erkenntnis: Schon zwei Tage nach dem "Blackout" wird die Situation kritisch. Doch eine Polizeipsychologin kommt zu beruhigenden Einsichten.

Die aktuellsten Zahlen der Bundesnetzagentur zu Stromausfällen stammen von 2015 und hören sich erst einmal harmlos an.

Knapp 180.000 Mal pro Jahr kommt es in Deutschland zu Stromausfällen von mehr als drei Minuten Dauer.

Meist bleiben die Steckdosen nur kurzzeitig ohne "Saft". Durchschnittlich musste der Endverbraucher zwölfeinhalb Minuten im Jahr ohne Strom auskommen.

Worst Case wäre "Katastrophe" und "nicht beherrschbar"

Doch was, wenn die Energie aus der Steckdose tagelang ausfiele?

Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) hat dieses Szenario untersuchen lassen – mit besorgniserregenden Ergebnissen.

Ein länger anhaltender Ausfall käme, so die Autoren der Studie, "einer nationalen Katastrophe gleich", die "nicht beherrschbar, allenfalls zu mildern" wäre.

Dass eine solche Katastrophe eintritt, gilt allerdings als unwahrscheinlich.

Christoph Unger, Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, geht "nicht davon aus, dass es zu einem kompletten Blackout kommen kann".

Die Aufteilung des deutschen Stromnetzes in vier getrennte Regelzonen liefere ausreichend Schutz vor einem Gesamtausfall des Netzes.

Trotzdem hält der Experte es für notwendig, über Extremfälle nachzudenken. Es sei immerhin vorstellbar, so Unger, dass sogenannte "Dominoeffekte" zum "automatischen Ausfallen immer weiterer Teile des Netzes" führen.

Sind erst einmal einige zentrale Knotenpunkte abgeschaltet, wird es schwierig, das ganze System wieder hochzufahren.

Immerhin: Die europäische Vernetzung der Stromnetze kann im Notfall auch die Rettung bringen. Mit Stromlieferungen aus Nachbarländern ließen sich lahmgelegte Teilbereiche wieder aktivieren.

In der Zwischenzeit wären Bundeswehr und Katastrophenschutz gefordert: Sie kennen die Notfallszenarien, verfügen über Treibstoff- und Nahrungsmittelreserven, haben eigene Kommunikationsmittel und können Transporte auf dem Luftweg abwickeln.

So könnte die Regierung Notfallpläne umsetzen und wieder Herr der Situation werden.

Wir sind abhängig vom Lebenselixier Strom

Zügige Hilfe jedenfalls wäre nötig: Ein Komplettausfall der Stromversorgung würde chaotische Bedingungen schaffen – denn wir sind extrem abhängig vom Lebenselixier Strom.

Versiegt er, dann fallen als erstes die Kommunikationsmittel aus. Zunächst Festnetztelefone, Faxgeräte und das Internet, wenig später auch die Handys – unter dem Ansturm Tausender Telefonkunden brechen die Netze schnell zusammen.

Vergeblich wählt nun die Notrufnummer, wer im Aufzug festsitzt oder ohne Licht im U-Bahn-Tunnel steckt. In den Städten stauen sich die Autos nach Unfällen vor ausgefallenen Ampeln, bei Nacht herrscht gespenstische Dunkelheit.

In unbeheizten Wohnungen versuchen die Menschen mit Gas zu kochen, machen Licht mit Kerzen, lösen dabei möglicherweise Brände aus – doch die Feuerwehr kommt spät oder gar nicht, weil sie nicht zur Unglücksstelle durchkommt oder nichts vom Brand erfährt.

Auch die Mobilität lässt schnell nach: Weil die Zapfsäulen der Tankstellen nur mit Strom funktionieren, ist kein Benzin mehr zu bekommen. Und bezahlen könnte man es weder bar noch mit Kreditkarte: Die Kartenlesegeräte der Geschäfte funktionieren ohne Strom ebenso wenig wie die Geldautomaten der Banken.

Andererseits: Man kann ohnehin kaum mehr etwas kaufen. Viele Geschäfte öffnen gar nicht, weil die elektronischen Türschlösser sich nicht entriegeln lassen. In den Lebensmittelläden sind die Regale nach zwei Tagen leer, der Nachschub bleibt im Verkehrschaos oder mangels Benzin stecken.

Die medizinische Versorgung bricht nach wenigen Tagen zusammen

Die Rettungsdienste sind völlig überlastet. Und in den Krankenhäusern gehen die Stromreserven schnell zur Neige: Kliniken verfügen zwar über Notstromaggregate, doch diese brauchen regelmäßigen Treibstoffnachschub.

Medikamente verderben wegen des Ausfalls der Kühlanlagen, innerhalb von nur einer Woche ist das "weitgehende Zusammenbrechen der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung" zu konstatieren.

Was dann geschieht, ist nicht vorauszusagen: Prognosen, die über die erste Woche eines flächendeckenden Stromausfalls hinausgehen, wagen seriöse Experten nicht, auch weltweit gibt es kaum Erfahrungen mit lang anhaltenden zivilen Katastrophen.

Geht am Ende die Zivilisation vor die Hunde, kämpfen bewaffnete Banden um die letzten Lebensmittel-, Treibstoff- und Medikamentenvorräte? Zu diesen Fragen kommen von wissenschaftlicher Seite beruhigende Erkenntnisse.

Professorin Britta Sticher ist an der Berliner Hochschule für Recht und Politik für Polizei- und Kriminalpsychologie zuständig.

Sie lehnt Horrorszenarien ab. Die "Mythen" von asozialem Verhalten in Krisensituationen hätten sich nicht bewahrheitet, sagt sie - im Gegenteil nehme die Hilfsbereitschaft dann zu.

Die Bürger können vieles alleine schaffen

Aus ihren Forschungsprojekten weiß die Wissenschaftlerin, dass von Katastrophen Betroffene sich zuallererst in vertrauten Netzwerken organisieren: Nachbarn helfen Nachbarn, Familien mit Kindern treffen sich mit ebensolchen.

Behörden mit Sicherungsaufgaben, so Sticher, kämen schnell an ihre Grenzen – es dauert oftmals tagelang, bis Notmaßnahmen greifen, der Staat seine Handlungsfähigkeit zurückerlangt, Rettungstruppen eintreffen.

Naturkatastrophen in anderen Ländern zeigten aber auch, dass die Betroffenen sich in der Zwischenzeit sehr wohl zu helfen wüssten. Deshalb, so Sticher, sei es wichtig, Selbsthilfe zu organisieren: "Die Bürger können vieles alleine regeln."

In Krisensituationen unterstützen die Menschen sich schnell gegenseitig – man hilft sich mit Brennstoffen und Lebensmitteln, Ärzte und Krankenschwestern setzen ihr Können in der Nachbarschaft ein, Handwerker helfen bei Reparaturen, man unterstützt sich, ohne auf Gegenleistung zu pochen.

Staatliche Institutionen, so Sticher, sollten den Menschen daher nicht raten, Lebensmittelvorräte zu horten, sondern stattdessen bessere Rahmenbedingungen für Selbsthilfe schaffen.

Schon jetzt gebe es an sozialen Brennpunkten viele Anlaufstellen für Hilfsbedürftige – Stadtteilzentren und Altentreffpunkte beispielsweise müssten an weiteren Orten entstehen und in ihrer Hilfskompetenz gestärkt werden.

In Stichers Augen besonders verlockend an diesem Konzept: "Ein solches Umdenken würde uns auch ohne Katastrophen weiter bringen!"

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