- Die Prognose-Modelle zu den Corona-Infektionszahlen sind mit der Zeit immer raffinierter geworden.
- Die Entwicklung der Pandemie vorherzusagen, wird durch Virus-Mutanten und verschiedene Impfstoffe allerdings immer komplexer.
- Was sind die wichtigsten Faktoren?
Wer bei der Corona-Pandemie in die Zukunft schauen möchte, der kommt um den Reproduktionswert R nicht herum. Dieser Wert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Liegt der Wert über 1, dann ist das schlecht. Denn dann steigen die Infektionszahlen jeden Tag - und zwar abhängig davon, wie hoch die Nachkommastelle nach der 1 ist.
Liegt der Reproduktionswert unter 1, dann ist das gut. Je nachdem, ob es 0,9 oder 0,5 sind, sinken die Infektionszahlen schneller oder langsamer auf ein niedriges Niveau, und die Corona-Pandemie läuft irgendwann aus. Ohne Kontaktbeschränkungen läge der R-Wert jedoch deutlich über 1.
Im Moment pendelt der R-Wert um die Zahl 1. Viele Forscher gehen davon aus, dass er wieder steigen könnte und dass Deutschland auf einen schwierigen Winter mit hohen Infektionszahlen und belegten Klinik-Betten zusteuert, wenn keine strengeren Maßnahmen ergriffen werden.
SIRD-Modelle zeigen Verlauf der Pandemie
Neben dem Reproduktionswert wird die Dynamik einer Pandemie mit SIRD-Modellen beschrieben. Darin wird die Bevölkerung eines Landes in vier Personengruppen aufgeteilt: Angefangen von Personen, die sich noch infizieren können (S für englisch Susceptible), in Infizierte (Infected), in Genesene (Recovered) und in Verstorbene (Died).
Das klingt zwar zunächst recht einfach, aber in der Realität steckt ein umfangreiches Formelwerk mit vielen Variablen und Rückkopplungen hinter den einzelnen Größen der SIRD-Modelle. Welche Variablen das sind und wie sie gewichtet werden, das hängt von den jeweiligen Forschern ab, die oft fachlich einen unterschiedlichen Hintergrund haben.
Woher die Wissenschaftler kommen
Professor Kai Nagel beispielsweise kommt ursprünglich aus der Verkehrssystemplanung. Er konzentriert sich auf Bewegungsanalysen von Menschen, die sich, vereinfacht betrachtet, in einem Dreieck bewegen - zwischen ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz und ihrer Freizeit. Wie oft die Menschen unterwegs sind, messen Nagel und seine Kollegen anhand von Mobilfunkdaten. "Wenn die Leute 30 Prozent weniger unterwegs sind, gibt es in etwa auch 30 Prozent weniger Kontakte", erklärt der Wissenschaftler die Bedeutung der Mobilität.
Noch deutlicher zeigt sich Nagel zufolge die Auswirkung der Kontakte auf die Infektionen. "Wenn noch 70 Prozent der ursprünglichen Kontakte übrig sind, dann haben wir nur noch 49 Prozent an möglichen Infektionen." Da sich Corona sehr stark über Aerosole in der Luft ausbreitet, sei es wichtig zu schauen, wo sich Menschen für längere Zeit in Innenräumen begegnen.
Ein anderer Modellierer ist Kristan Schneider, Professor für Mathematik an der Hochschule Mittweida in Sachsen. Er hatte schon vor der Corona-Pandemie über Infektionskrankheiten geforscht - konkret an der Ausbreitung von Malaria. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Kamerun stellte er Anfang 2020 eigene Corona-Simulationen auf und tauschte sich dazu mit dem Center for Global Health der University of New Mexiko (USA) und Partnern in Kenia aus, um klinische Daten über das Virus zu haben.
Von Saisonalität bis Varianz
Neben den Kontakten sind ein grundlegender Faktor für Schneiders Berechnungen saisonale Schwankungen bei der Übertragbarkeit des Virus - ähnlich wie bei der Grippe. "Man weiß, dass Viren länger in der Kälte aktiv sind und dass UV-Strahlung ihnen nicht gut tut", erklärt Schneider. Das spiegele sich auch in Prognosen insofern wider, dass um den 21. Dezember der Höhepunkt der Übertragbarkeit und wenig später der Peak der Infektionen erreicht werde, sagt der Mathematiker.
Professor Dirk Brockmann ist Physiker, arbeitet am Institut für Biologie der Humboldt-Uni Berlin und leitet zudem eine Arbeitsgruppe für Simulationen am Robert-Koch-Institut (RKI). Für seine Berechnungen zur globalen Ausbreitung des Corona-Virus berücksichtigte er Daten zum weltweiten Flugverkehrsnetz zwischen mehr als 4000 Flughäfen. Die Ausbreitung von Viren habe heutzutage eine ganz andere Dynamik als noch vor 100 Jahren, sagte Brockmann im Podcast des NDR. "Das Virus kennt keine nationalen Grenzen."
Brockmann betrachtet auch das Kontaktverhalten - und dabei nicht nur, wie viele Personen ein Mensch im Durchschnitt täglich trifft. Für den Wissenschaftler kommt es darauf an, wie stark sich dieses Kontaktverhalten ändert - also ob eine Person beispielsweise an vier Tagen wenige Menschen trifft, am fünften Tag dann aber eine ganze Gruppe von Menschen. Dieser Wechsel spiegelt sich im Variabilitäts-Wert wider, der zum Herbst hin wieder angestiegen sei. Diese Variabilität im Kontaktverhalten verstärke das Infektionsgeschehen, erklärt der Berliner Modellierer die Zunahme der Infektionszahlen in den vergangenen Monaten.
Was hat sich seit Pandemie-Beginn geändert?
Zu Beginn der Pandemie lagen den meisten Prognosen einfache statistische Berechnungen zugrunde. Bei solchen Modellen wird anhand aktueller Daten hochgerechnet, wie sich die Ansteckungszahlen weiterentwickeln, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden und sich auch am Verhalten der Menschen wenig ändert. "Solche Szenarien lassen sich in statistischen Modellen recht sauber berechnen. Aber sie sind eben nur ein Szenario, nicht mehr und nicht weniger", sagt Physiker und Epidemiologe Michael Meyer-Hermann vom Forschungszentrum für Systembiologie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung.
Besser für Prognosen geeignet sind sogenannte mechanistische Modelle. "Dabei versucht man, bekannte und vorhersagbare Mechanismen mit einzuberechnen", erklärt der Epidemiologe. Beispiele dafür sind eine Änderung des menschlichen Verhaltens bei verschiedenen Wetterlagen oder bei verschiedenen Corona-Schutzmaßnahmen.
Probleme gestern - Probleme heute
Ein weiteres Problem in der Anfangsphase waren die fehlenden Testkapazitäten. "Die Daten zu Beginn der Corona-Pandemie waren nicht valide, es wurde viel zu wenig getestet", sagt Kristan Schneider, der seine Prognosen deshalb immer nach oben anglich.
Kai Nagel wiederum weist darauf hin, dass die Berechnungen auch aus einem anderen Grund komplizierter geworden sind: "Jetzt ist es die Komplexität durch die unterschiedlichen Impfstoffe und Mutationen sowie die verschiedenen Zeiten seit der Impfung. Denn Menschen nach der Impfung übertragen das Virus geringer. Sechs Monate nach der Impfung hingegen übertragen sie es wieder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, da lässt der Schutz nach. Das hat exakte Vorhersagen im Sommer relativ schwer gemacht."
Was die Forscher voraussagen können
Anfang dieses Jahres standen von der Bundesregierung angeschriebene Modellierer in der Kritik: Sie hätten ein zu dramatisches Corona-Modell entwickelt, hieß es. So hatte die "Welt am Sonntag" damals geschrieben, die Wissenschaftler hätten ein "Worst-Case-Szenario" berechnet, demzufolge in Deutschland mehr als eine Million Menschen am Coronavirus sterben könnten, würde das gesellschaftliche Leben so weitergeführt wie vor der Pandemie.
Übersehen wird bei solchen Szenarien gerne, dass die Modelle immer mit Unsicherheiten behaftet sind und auch davon abhängen, welche Entscheidungen Politiker ergreifen. Modellierer können deshalb immer nur Szenarien berechnen, die in Zahlen die Wirkung von verschiedenen Einschnitten in das gesellschaftliche Leben verdeutlichen.
So hat Kristan Schneider Mitte November drei Szenarien berechnet: ein Szenario ohne Einschränkungen, demzufolge auf dem Höhepunkt der Welle mehr als drei Millionen Menschen gleichzeitig infiziert wären. Ein weiteres Szenario mit einer sofortigen Impfpflicht für alle, was für die vierte Welle nur noch wenig bringen würde. In einem dritten Szenario geht Schneider von der Schließung von Kitas und Schulen sowie von einer stärkeren Pflicht zu Home-Office aus. In diesem Szenario würden sich die Fallzahlen etwa halbieren.
Was sollte gemacht werden?
Wie es mit der Corona-Entwicklung weitergeht, hängt laut Brockmann stark vom Verhalten der Menschen ab. Der Wissenschaftler sagte im Podcast mit dem RBB-Inforadio: "Impfungen, Kontakte, Masken, Tests: Jeder einzelne Faktor reduziert nicht ausreichend. All diese Faktoren zusammen können das Infektionsgeschehen aber bremsen und sind deshalb wichtig."
Aus Sicht von Kristan Schneider hilft am besten eine Notbremse wie im Frühjahr 2021. Dazu zählt auch die Schließung von Kitas und Schulen. Kinder seien zwar keine Pandemietreiber, weil sie im Gegensatz zu Erwachsenen größtenteils in ihrer Altersgruppe bleiben, allerdings geben sie das Virus weiter von der einen Familie in die andere.
Problematisch sieht Kai Nagel die hohe Ansteckungsrate der Delta-Variante: "Die Deltavariante ist zu zwei Drittel ansteckender als die Wildvariante, bei den Erwachsenen sind zwei Drittel geimpft, das gleicht sich in etwa aus. Bei den Schülerinnen und Schüler haben wir das Problem, dass die unter 12-jährigen gar nicht geimpft sind, und dort wirkt sich die Verstärkung voll aus."
Verwendete Quellen:
- Telefonat mit Professor Kristan Schneider von der Fakultät für Angewandte Computer- und Biowissenschaften an der HS Mittweida
- Telefonat mit Professor Kai Nagel, Professor für Verkehrssystemplanung und Telematik am Institut für Land- und Seeverkehr der TU Berlin
- Hintergrund zu Berechnungen des RKI durch Professor Dirk Brockmann
- Physiker und Modellierer Dirk Brockmann im NDR-Podcast
- Podcast vom RBB-Inforadio: Welche Faktoren beeinflussen die Corona-Ausbreitung, Herr Brockmann?
- Helmholtz-Zentrum: Wie gut waren die Modellrechnungen?
- Modellsimulation von Prof. Kristian Schneider von der HS Mittweida
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