• Rainer Winkler, der bei YouTube als "Drachenlord" bekannt ist, wird vom Amtsgericht Neustadt an der Aisch zu zwei Jahren Haft verurteilt.
  • Zuvor hatte er unter anderem schwere Körperverletzung begangen und Polizisten beleidigt.
  • Eine jahrelange Geschichte des extremen Cybermobbings geht dem Fall voraus. Kann die deutsche Justiz dem angemessen begegnen? Ein Internetrechtsexperte und ein Cybermobbing-Experte geben Antworten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein Mann schlägt einen anderen mit einer Taschenlampe und verletzt ihn, wirft mit einem Backstein und beleidigt Polizisten. Er wird zu zwei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Normalerweise würde ein solches Gerichtsurteil für wenig Aufsehen sorgen – wäre der Verurteilte nicht prominenter YouTuber mit einer riesigen Community an Hatern.

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Die Rede ist von Rainer Winkler, im Netz besser bekannt als "Drachenlord". Dort ist der 32-Jährige seit 2013 vor allem auf der Plattform YouTube unterwegs, streamt live und spricht in seinen Videos über Themen wie Musik, Politik, seinen Alltag und Computerspiele. Rund 168.000 Menschen sehen ihm dabei mittlerweile zu.

Mob aus Tausenden Hatern

Die meisten dieser Abonnenten sind allerdings keine Fans von Winkler, sondern sogenannte Hater (Englisch für Hasser, Anm. d. Red.). Sie feinden den "Drachenlord" seit Jahren an, provozieren und beleidigen ihn. "Es handelt sich längst nicht mehr um Online-Attacken, das Mobbing findet auch im realen Leben statt", sagt Cybermobbing-Experte Lukas Pohland im Gespräch mit unserer Redaktion. Er ist Initiator eines Beratungsvereins für Geschädigte.

"Die Hater verabreden sich in Foren in aller Öffentlichkeit zu Treffen vor Winklers Wohnhaus", sagt Pohland. Dort provozierten sie ihn bis aufs Blut, gröhlten Beleidigungen, zündeten Feuerwerke oder würden mit Unrat werfen. "Die Formen des Mobbings sind sehr vielfältig", sagt Pohland. Das Wohnhaus von Winkler sei zu einer Art Pilgerstätte geworden, Videos von Provokationen eine Art Trophäe.

Viele Formen des Mobbings

Im Jahr 2018 feierten 800 seiner Hater eine Art Fest vor seinem Haus, die Polizei musste starke Präsenz zeigen. Auch sonst ist die örtliche Polizei durch das andauernde Mobbing stark belastet: In der Vergangenheit wurde die unbeteiligte Schwester des YouTubers bedroht, das Grab des Vaters geschändet, Dinge in seinem Namen bestellt.

Hater brachten den "Drachenlord" sogar dazu, einer vermeintlichen Freundin vor laufender Kamera einen Hochzeitsantrag zu machen. Sie outete sich als Haterin, sagte: "Du bist der fetteste, dümmste Idiot, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe" – ein Millionenpublikum hat das gesehen.

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Schwartmann: "Es greift zu kurz, nur diese Seite zu diskutieren"

Der YouTuber ist schrill, spricht mit breitem fränkischen Akzent. Winkler hat Übergewicht, Hautprobleme und laut Gerichtsgutachten eine "verminderte Intelligenz". Er gibt antisemitische und frauenfeindliche Kommentare von sich. Die Adresse seines Wohnhauses hatte er 2014 selbst veröffentlicht. "Winkler spielt in gewisser Weise mit dem Hass", sagt Medienrechtsexperte Rolf Schwartmann.

Mit falschen Hinweisen haben Hater bereits Polizeieinsätze mit Hausdurchsuchungen bei Winkler ausgelöst, zuletzt brachten sie ihn bei den Morden mit Pfeil und Bogen in Norwegen als Täter ins Spiel. Für die Hater ist all das ein Spiel, das "Drachengame".

In einer Kolumne des "Spiegel" nannte Journalist Sascha Lobo dieses Spiel ein "kollektives Squid Game mit einem einzigen Opfer". Ziel sei es, den "Drachenlord" in den Selbstmord zu treiben. Als Winkler dem psychischen Druck nicht mehr standhielt, wurde er selbst straffällig – beging unter anderem die beschriebene schwere Körperverletzung.

Ende Oktober hat das Amtsgericht Neustadt an der Aisch den YouTuber nun zu zwei Jahren Haft verurteilt, beide Seiten haben Berufung eingelegt. "Winkler hat eine gefährliche Körperverletzung begangen und gestanden. Es greift aber zu kurz, nur diese Seite und das Strafmaß zu diskutieren, denn die Tat kam nicht aus heiterem Himmel", betont Schwartmann.

Kam es zur Täter-Opfer-Umkehr?

Es stelle sich nun die Frage, ob das jahrelange Mobbing Einfluss auf das Urteil der Richter haben sollte. "Auf die Strafbarkeit wohl nicht, vielleicht aber auf das Strafmaß. Winkler ist kein kleines Kind, das mit einer Schüppe geschlagen hat und nicht schuldfähig und nicht zurechnungsfähig ist. Er hätte sich auf diese Weise nicht wehren dürfen", kommentiert Schwartmann.

Auch Pohland sagt: "Es ist nicht richtig, mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren. Grundsätzlich muss ein Rechtsstaat darauf natürlich reagieren. Fraglich ist allerdings, ob in diesem Fall nicht eine Täter-Opfer-Umkehr passiert." Aus seiner Sicht sei nicht ausreichend berücksichtigt, unter welchem psychischen Druck Winkler gestanden habe.

"Cybermobbing" kennt das deutsche Strafgesetzbuch nicht

"In seinen Augen hatte er keine andere Möglichkeit mehr, sich zu wehren. Wir beobachten auch in unserer Beratungsarbeit, dass aus Opfern von Cybermobbing Täter werden", sagt der Experte. Eine Straftat "Cybermobbing" kennt das deutsche Strafgesetzbuch nicht. Handlungen eines Cybermobbers können aber Straftatbestände erfüllen – etwa Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung.

Ist die Gesetzeslage in Deutschland ausreichend für eine digitale Gesellschaft? "Wir erleben in unserer Beratungsarbeit, dass wir ein Cybermobbing-Gesetz bräuchten", meint Pohland. Zwar seien Angriffe im Digitalen bereits häufig strafbar, Beleidigungen im Netz hätten aber ein ganz anderes Ausmaß als etwa auf offener Straße. "Die Dosis ist anders, der psychische Terror viel höher", sagt Pohland. Außerdem herrscht ein Verfolgungsdefizit: Die Identität der Täter ist häufig nicht auszumachen.

Gesellschaftliches Umdenken

Viel wichtiger als neue Gesetze ist aus seiner Sicht jedoch ein gesellschaftliches Umdenken: "Wir müssen in der Prävention ansetzen. Die Niederlande haben das in ihre Gesetzgebung aufgenommen, in Deutschland ist das Thema in vielen Bundesländern noch nicht einmal Teil des Lehrplans", sagt er.

Schwartmann hält die aktuelle Gesetzeslage für ausreichend. "Gesetze kommen immer erst zum Schluss, sie können keine gesellschaftlichen Probleme lösen", meint er. Es sei nicht der richtige Weg, immer direkt neue Gesetze zu fordern, wenn etwas passiere. "Beleidigungen können schon geahndet werden, auch Stalking oder Cyber-Grooming stehen unter Strafe. Welchen neuen Straftatbestand soll es also geben?", fragt er.

Neues Gesetz sinnvoll?

Ein neues Gesetz werde das Problem nicht in den Griff bekommen. "Man konnte schon vor Jahrzehnten anonym Pizza zu jemandem liefern lassen, neu ist für die Gerichte vielmehr, dass in der digitalen Gesellschaft das Ausmaß nun viel größer ist." Mob und Publikum sind gewaltiger.

"Die Gesellschaft muss lernen, anders damit umzugehen, wenn Menschen an die Grenze des Sagbaren gehen", sagt Schwartmann. Auch, wer sich im Netz provokativ darstelle, habe einen Anspruch auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte. Doch selbst, wenn bei Winkler ständig Polizeieinsätze stattfänden, könne er nicht vollständig geschützt werden. "Das Netz bringt Erscheinungen hervor, die man teilweise nicht richtig lösen kann", gibt Schwartmann zu.

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Über die Experten: Prof. Dr. Rolf Schwartmann ist Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der Technischen Hochschule Köln und Inhaber der Professur für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht. Er ist zugleich Privatdozent an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) e.V. Prof. Dr. Rolf Schwartmann ist Mitglied der Datenethikkommission und als Kolumnist für die Redaktion tätig.
Lukas Pohland ist Schüler und Experte für Cybermobbing. Als Geschädigter ist er bereits mehrfach in Talkshows und zur Anhörung in politischen Gremien aufgetreten. Er ist Initiator des Vereines Cybermobbing-Hilfe e.V., der Betroffene berät und betreut.
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