Der Hang zu Waffen scheint in der DNA der US-Amerikaner einprogrammiert zu sein. Über 300 Millionen Pistolen, Gewehre und Shotguns sollen in den USA im Umlauf sein, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Waffengewalt ist so hoch wie in keiner anderen Industrienation weltweit. Und dennoch ändert sich an den lockeren Waffengesetzen kaum etwas. Der USA-Experte David Sirakov weiß, warum Waffen den Amerikanern heilig sind und Gerichte mit über 200 Jahre alten Gesetzen argumentieren, um eine strengere Regulierung zu verhindern.

Ein Interview

Bei einem Amoklauf in Allen, Texas, sind im Mai acht Menschen getötet worden. In einer Schule in Nashville, Tennessee, starben im März sechs Menschen. Und diese tragischen Vorfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Herr Sirakov, was läuft da falsch in den USA?

David Sirakov: Die USA haben im internationalen Vergleich eines der liberalsten Waffengesetze. Dazu sind rund 300 Millionen Waffen in Amerika im Umlauf. Dadurch ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass Waffen in solchen Situationen zum Einsatz kommen.

Einer Studie zufolge gab es zwischen 1966 und 2012 in den USA 90 Amokläufe (Definition: vier oder mehr Tote; Anm. d. Red.). Zusammengerechnet waren es weltweit in derselben Zeit 292. Die Vereinigten Staaten verzeichnen also 31 Prozent der Amokläufe weltweit, bei nur fünf Prozent Anteil an der Weltbevölkerung.

Man muss bei solchen Statistiken zu Amokläufen aufpassen, welche Daten verwendet werden. Zeitspannen können trügerisch sein. Da taucht auch mal Norwegen auf. Aber nur, weil der Amoklauf von Anders Breivik 2011 so viele Tote gefordert hat. Rechnet man es jedoch auf einzelne Jahre herunter, gibt es keinen G7-Staat, bei dem es nur annähernd so viele Tote und Amokläufe gab, wie in den USA.

Waffen und Waffengewalt in den USA: Warum sich nichts ändert

In den USA sorgen immer wieder Schulmassaker mit vielen Toten für Entsetzen, wie zuletzt in Uvalde im Bundesstaat Texas. Die Debatte über das Waffenrecht wird in den Vereinigten Staaten erhitzt geführt. Doch der Besitz von Schusswaffen wird im zweiten Zusatz der US-Verfassung garantiert. (afp, Foto: dpa)

Amokläufe machen nur einen geringen Anteil an der Waffengewalt in den USA aus

Eine weitere Statistik sagt, dass 2022 rund 44.000 Menschen in Amerika infolge von Waffengewalt gestorben sind. Seit 2020 werden Waffen bei Kindern und Jugendlichen als häufigste Todesursache angegeben. Gehen diese Toten alle auf das Konto von Amokläufern?

Nein, Amokläufe, so tragisch sie auch sind, machen nur einen kleinen Prozentteil der Todesfälle aus. Tatsächlich können 54 Prozent der Todesfälle durch Waffengewalt auf Selbstmorde zurückgeführt werden. Hier zeigt sich ein Punkt, in dem die Überzeugungen beziehungsweise Interpretationen der konservativen Republikaner und der liberalen Demokraten nicht zueinander finden.

Inwiefern?

Die Demokraten sagen: Wenn wir die Möglichkeit des Waffenbesitzes und des Waffenerwerbs einschränken, dann reduzieren wir die Anzahl an Toten. Die Republikaner argumentieren jedoch in der Regel so, dass nicht die Waffen töten, sondern die Menschen. Wir müssten, so die Republikaner, also nicht Waffen, sondern Menschen regulieren. Ihre Konsequenz wäre eine bessere Gesundheitsvorsorge, um die mentale Gesundheit zu fördern.

Haben sie damit recht?

Wenn man sich Untersuchungen anschaut, muss man sagen: Das ist totaler Nonsens. Wenn sowohl für Suizide als auch Amokläufe keine Waffen zur Verfügung stünden, dann würden Werkzeuge eingesetzt, die weitaus ineffektiver sind. Hier gibt es ebenfalls Untersuchungen. Wer versucht, sich mit einer Waffe umzubringen, schafft das zu 96 Prozent. Mit anderen Mitteln sinkt die Quote rapide auf sechs bis zehn Prozent. Ähnliches hat man auch in einer Studie aus Australien festgestellt. Dort wurde das Waffenrecht nach einem Amoklauf extrem verschärft. Seitdem gab es keine Amokläufe mehr. Die Zahl der Toten und Selbstmörder durch Waffengewalt sank rapide. Die Selbstmordrate mit anderen Hilfsmitteln stieg aber nicht im gleichen Maße an. Das legt den Schluss nahe: Ist eine Waffe vorhanden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie eingesetzt wird.

Waffenbesitz in den USA hat eine lange Geschichte

Die USA und ihre Waffen – eine Verbindung mit langer Historie. Im zweiten Zusatzartikel der Verfassung (Bill of Rights, 1789) heißt es schon "Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden." Warum ist den US-Amerikanern dieser Passus heute noch so wichtig?

Das geht auf den Gründungsmythos der USA zurück. Obrigkeit muss kontrolliert werden. Das ist eine Grundfeste der amerikanischen Kultur. Das rührt noch daher, dass die Menschen damals aus feudalen und/oder absolutistischen Systemen in Europa – also aus Unterdrückung – in die Freiheit Amerikas ausgewandert sind. Hier spielt auch viel der Wild-West-Gedanke eine Rolle. In der Siedlerzeit gab es kaum Gesetze, daher musste man sich selbst verteidigen.

Aber heute gibt es Staaten und Gesetze.

In den USA hatte man aber schon immer Angst vor Autokraten und einem übergriffigen Staat. Deshalb brauche es eine "bewaffnete Miliz", die zur Not auch mit Waffengewalt die Verfassung schützt. In Zeiten von Donald Trump ist das ein wenig in Vergessenheit geraten. Denn es geht eben nicht um eine einzelne Person, sondern immer nur um die Verfassung.

Ist es deshalb auch so schwer, heute etwas an den Waffengesetzen zu ändern?

Das hängt viel mit der Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft und in der Politik zusammen. Noch in den 1980er und 1990er Jahren wurden Waffengesetze über Parteigrenzen beschlossen. Heutzutage wollen die Republikaner am besten keine Einschränkungen und die Demokraten stärkere Regulierungen. Man findet nicht mehr zusammen.

Konservative schüren Angst vor Waffenverboten

Republikaner äußern sich nach Amokläufen häufig mit "thoughts and prayers" (Gedanken und Gebeten; Anm. d. Red.), wollen aber an den Gesetzen nichts ändern. Wie kommt es, dass sie damit fast immer durchkommen?

Nach solchen Ereignissen gibt es meist ein kurzes Aufbäumen, dann folgt aber immer eine relativ schnelle Beruhigung des Ganzen – ein Abebben des Aktionismus. Außerdem muss man sehen, dass nur 22 Prozent der Amerikaner (Bevölkerung 2021: rund 332 Millionen Menschen; Anm. d. Red.) die rund 300 Millionen Waffen besitzen. Man sieht dadurch das Missverhältnis von Menschen, die Interesse an Waffenbesitz haben, und ihrer politischen Repräsentation. Ein Republikaner neigt eher dazu, eine Waffe zu besitzen als ein Demokrat. Und ein Waffenbesitzer neigt eher dazu, sich am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen als jemand ohne Waffe. Dies führt im weiteren Schluss dazu, dass vor allem auf republikanischer Seite Waffenbefürworter häufiger im Kongress oder in Länderparlamenten sitzen.

Und welche Rolle spielt in dem Ganzen die Waffenlobby-Organisation National Rifle Association (NRA)?

Sie verbreitet den Mythos, dass der zweite Zusatzartikel unter großem Druck stehe, abgeschafft zu werden. Aber eine Abschaffung ist völliger Unsinn. Es gibt ein paar demokratische Politiker, die das wollen, aber bei Weitem nicht die Mehrheit. Doch für die NRA ist schon eine stärkere Regulierung der Waffengesetze, wie das Verbot bestimmter Waffentypen oder strengere Überprüfungen der Waffenkäufer nicht akzeptabel.

Bleiben wir bei den Waffentypen. Als die Gründungsväter die Verfassung aufsetzten, gab es beispielsweise noch keine automatischen Sturmgewehre. Wie passt das also ins Bild?

Genau da haben die Konservativen ihre Argumentationsschwierigkeiten. Denn sie orientieren sich – ähnliche wie die vorwiegend konservativen Richter am Supreme Court – stark am Original der Verfassung. Automatische Waffen beispielsweise haben aber nichts mehr mit der ursprünglichen Intention der Gründungsväter zu tun. Solche Waffen wurden nur hergestellt, um in einem Krieg verwendet zu werden. Warum sollte man in Friedenszeiten in einem Staat mit funktionierendem Sicherheitsapparat mit automatischen Sturmgewehren herumlaufen?

Am Supreme Court scheitern viele Verschärfungen der Waffengesetze

Sie sprachen den Supreme Court, also das Oberste Gericht der USA, an. Scheitern schärfere Waffengesetze auch an dieser Instanz?

Im Supreme Court sitzen neun Richter – sechs davon sind konservativ. Es gab jüngst einen Fall aus New York. Dort sollte das Tragen von Waffen außerhalb der eigenen vier Wände stark reglementiert werden. Dies wurde vom Obersten Gerichtshof mit Verweis auf den zweiten Zusatzartikel gekippt, weil er eben den Waffenbesitz erlaubt und damit für die Richter auch gemeint sei, die Waffe überall hin mitzunehmen.

Überall?

Überall nur in Anführungszeichen. Auch dem Supreme Court war klar, dass das nicht überall sein kann, beispielsweise nicht in öffentlichen Gebäuden, Stadien oder Schulen.

Aber nicht nur auf Bundesebene gibt es Waffengesetze. Jeder einzelne Staat hat seine eigenen. Ist das nicht kontraproduktiv, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht?

Bundesgesetz steht immer über Landesgesetz. Sollten automatische Waffen auf Bundesebene verboten werden, müsste das jeder Staat umsetzen. Das wird aber kaum passieren, eben wegen der Polarisierung im Senat und im Repräsentantenhaus. Diese Polarisierung existiert aber auch auf Länderebene. Dort gibt es fast schon eine Wettbewerbssituation zwischen den Staaten.

Wie meinen Sie das?

In konservativen Staaten überbietet man sich geradezu mit Lockerungen. In progressiveren Staaten werden die Gesetze immer mehr verschärft. Und in besonderen Fällen können solche Gesetze dann auch vor dem Supreme Court landen, wie in New York. Das strengste Waffengesetz in den USA hat derzeit Kalifornien – besonders was das Alter angeht. Dort kann man erst mit 21 Jahren eine Waffe erwerben. In Rhode Island hingegen schon mit 16 Jahren.

Aber noch so scharfe Waffengesetze bringen nichts, wenn ich einfach in den nächsten Bundesstaat fahren und mir dort eine Waffe besorgen kann.

Das ist das Problem im Föderalismus – die Staatsgrenzen sind durchlässig. Beispielsweise ist die Waffengewalt in Chicago im Bundesstaat Illinois ein bekanntes Problem in den USA. Es hat sich allerdings gezeigt, dass die Mehrzahl der Waffen dort gar nicht aus Illinois stammen, sondern aus den Nachbarstaaten eingeführt wurden.

Die Hoffnung, dass sich in den USA zeitnah etwas ändert, ist gering

Welche Rollen spielen eigentlich die Medien in den USA?

Die Medien befeuern die Polarisierung und den Populismus. Viele Nachrichtenkanäle in den USA – vor allem die lokalen Sender – sind voll mit Mord und Totschlag. Vor allem in ländlichen Gegenden suggerieren einem die vorwiegend konservativen Medien, dass man dauerhaft Angst um sein Leben haben und damit rechnen muss, an der nächsten Straßenecke erschossen zu werden. Dies führt dazu, dass Menschen sagen, sie brauchen Waffen, um sich zu verteidigen.

Wenn die Polarisierung in den USA so stark ausgeprägt und die Liebe zu den Waffen so stark verankert ist, kann sich dann dort überhaupt etwas ändern?

Da bin ich nicht optimistisch. In absehbarer Zeit wird es nicht zu einer Entspannung kommen. Die Diskussion über Waffen geht einher mit dem Polarisierungsgrad. Ich sehe wenig Chancen auf eine Veränderung hin zum Guten, weil die Republikaner das in aller Regel blockieren würden. Änderungen wären also unter Trump nicht möglich gewesen, weil er kein Interesse daran hatte. Unter Biden im Weißen Haus und mit demokratischer Mehrheit im Senat und im Kongress war es möglich, zumindest kleine Änderungen durchzubringen.

Also ist vorerst der Kampf gegen die Waffengewalt in den USA verloren?

Es gibt einen kleinen Lichtblick. In manchen Staaten gibt es die Möglichkeit, Behörden auf Ungereimtheiten oder Probleme von Personen hinzuweisen. Wenn jemand beispielsweise sagt, ich sprenge den Laden hier in die Luft, kann das untersucht werden und sollte etwas an den Anschuldigungen dran sein, können der Person die Waffen abgenommen werden. Bislang ist das in etwa 20 Bundesstaaten möglich. Untersuchungen haben gezeigt, dass zum Beispiel in Kalifornien bei rund 30 Prozent der gemeldeten Personen tatsächlich die Waffen eingezogen wurden. Allein dadurch konnten viele potenzielle Opfer verhindert werden. Aber das findet nur in den liberal geführten Bundesstaaten statt.

Zur Person: Dr. David Sirakov ist Politikwissenschaftler und seit 2015 Direktor der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die US-Innenpolitik mit besonderem Schwerpunkt auf die politische und gesellschaftliche Polarisierung sowie der Aufstieg des Populismus in Europa und den USA.

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