- Deutschlandweit fehlen nach Schätzungen der Bertelsmann Stiftung fast 400.000 Kita-Plätze für das kommende Jahr. Besonders massiv ist der Mangel im U3-Bereich.
- Doch das Problem gibt es nicht erst seit gestern: Seit Jahren verschärft sich die Situation immer weiter.
- Zwei Expertinnen schlagen Alarm und sprechen über Kita-Platz-Klagen, Fachkräftemangel und herabgesetzte Qualitätsmaßstäbe.
Schon kurz nachdem Theo geboren war, hat Christina Mertens (Name geändert) sich auf den Weg gemacht: Kindergärten abgeklappert, Info-Nachmittage besucht, Kindertageseinrichtungen besichtigt.
Dabei hat sie immer wieder durchscheinen lassen, dass ihre Bereitschaft, sich einzubringen, über den obligatorischen Kuchen am Sommerfest hinausgeht, wie dringend sie auf einen Platz angewiesen ist und wie pflegeleicht Theo doch ist. Und das, obwohl sie erst zwei Jahre später einen Platz für ihren Sohn gebraucht hat.
Immer neue Rekorde des Mangels
Genutzt hat es nichts. Einen Betreuungsplatz für Theo hat die Berlinerin nicht bekommen. "Dass es keine unserer Wunschkitas wird, damit habe ich schon gerechnet", gibt sie zu. "Dass wir gar keinen Platz bekommen, war dann aber schon ein Schlag", sagt die 32-Jährige. Kurzfristig musste die Bürofachangestellte umorganisieren: neue Absprachen mit dem Arbeitgeber treffen, die Großmutter in Anspruch nehmen, beruflich zurückstecken.
"Erst rennt man einer Hebamme hinterher, dann einem Kita-Platz", ärgert sich Mertens. Sie hat mit der Betreuung durch die Großmutter eine Zwischenlösung gefunden, behält sich aber den Klageweg vor. So wie den Mertens geht es schon jetzt vielen Familien in Deutschland. Jahr für Jahr wird das Problem der mangelnden Betreuungsplätze größer.
Fast 400.000 Kita-Plätze fehlen
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat jüngst ausgerechnet: Für das kommende Jahr fehlen fast 400.000 Kita-Plätze. Der Rechtsanspruch, den Eltern mittlerweile seit Jahren haben – ein Betreuungsplatz ab dem 1. Geburtstag – kann in vielen Regionen Deutschlands nicht flächendeckend eingelöst werden. Insbesondere im Westen Deutschlands übersteigt die Nachfrage das Angebot fast überall. Während im Osten schätzungsweise 21.200 Plätze fehlen, sind es im Westen voraussichtlich 362.400.
Der größte Mangel besteht im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Allein hier fehlen über 100.000 Betreuungsplätze. Bei den unter Dreijährigen ist die Platznot außerdem insgesamt größer als bei den älteren Kindern.
"Die Situation verschlechtert sich gerade massiv", sagt auch Christine Finke. Sie bloggt unter anderem zum Kita-Platz-Mangel und ist Stadträtin in Konstanz. Als solche sitzt sie auch im Sozial- und im Jugendhilfeausschuss. Im Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern ist Finke daher dauerhaft. "Das System steht kurz vor dem Kollaps", warnt sie.
Expertin sieht sozialen Sprengstoff
Finke sieht dabei sozialen Sprengstoff. "Die Eltern müssen arbeiten, auch wenn nicht jeder 40 Stunden arbeiten möchte. Die steigenden Mieten und Preise lassen oft nichts anderes zu", sagt sie. Dabei würden die Menschen in ihrer Not anfangen bei der Platzvergabe zu schummeln. "Sie lassen sich zum Beispiel Ganztagstätigkeiten bescheinigen, obwohl sie keine volle Stelle haben", weiß Finke. Das führe zu jeder Menge bösem Blut.
"Zur persönlichen Not kommt dann für viele das Gefühl, dass es ungerecht zugeht. Das ist sozial hochexplosiv", sagt die Expertin. Die zentrale Verteilung über das Jugendamt sei im Prinzip eine gute Idee vieler Städte. Aber es implodiere nun, weil immer mehr Betreuungsplätze gebraucht würden, zum Leid der Familien: "Schon Corona hat dazu geführt, dass vor allem Frauen kürzergetreten sind oder versucht haben, alles irgendwie unter einen Hut zu bringen", erinnert Finke.
Zudem würden die Kinder an professioneller Begleitung in der frühen Bildung einbüßen. "Der Mangel an Betreuungsplätzen wächst immer weiter und gleichzeitig nimmt der Druck angesichts von Inflation und Preissteigerungen auf Eltern zu, den Lebensunterhalt zu finanzieren", beobachtet Finke. Durch die Kinder unter den ukrainischen Flüchtlingen verschärfe sich die Situation weiter.
Den Rechtsanspruch einklagen
Das fürchtet auch Juristin Nele Trenner, die auf sogenannte Kita-Platz-Klagen spezialisiert ist. "Die Hütte brennt", sagt sie. Eltern, die zu ihr kommen, wollen ihren Rechtsanspruch einklagen. Oft bringen sie dutzende Wartelisten, Exceltabellen, Telefonlisten und Mail-Verläufe mit. "Die Kita-Platz-Klage ist darauf gerichtet, einen bedarfsgerechten und zumutbaren Betreuungsplatz zu bekommen", erklärt Trenner.
Das Klagerisiko ist angesichts des Rechtsanspruchs für Eltern ausgesprochen gering. "Wenn die Kommune oder Gemeinde nicht gehandelt hat, gibt es einen entsprechenden stattgebenden Beschluss, der sie verpflichtet, einen Platz nachzuweisen", sagt die Expertin. Schwieriger sei aber die Durchsetzung des Beschlusses, manchmal müssten die Kommunen einen Platz durch Überbelegung oder Neubau erst ermöglichen.
Juristin: "Politik rennt seit Jahren den Problemen hinterher"
In der Praxis erlebt Trenner, welche Hürden Eltern teilweise nehmen müssen. "Wenn man Vollzeit arbeitet, muss der zeitliche Bedarf abgedeckt sein. Viele Bundesländer haben da aber extreme Ansichten: Sie erachten beispielsweise eine Betreuung im Umfang von vier oder sechs Stunden als bedarfsgerecht, oder eine Betreuung nur vormittags und nachmittags ohne Übermittagsbetreuung", erzählt Trenner.
Manchmal passiert es auch, dass trotz stattgebendem Beschluss weiterhin kein Platz da sei. "Dann kommt es auch zu Schadensersatzklagen", weiß Trenner. In diesen Fällen würden die Eltern argumentieren, dass aufgrund des fehlenden Platzes ein Elternteil zuhause bleiben musste oder eine private Betreuung bezahlt werden musste und dafür Kosten angefallen seien.
Auch aus Sicht der Juristin steht der Kollaps kurz bevor: "Die Politik rennt seit Jahren den Problemen hinterher. Der Bedarf wird immer größer, wir schieben eine Welle vor uns her", sagt sie und fordert: Schon bei Neubauprojekten müsse mitgedacht werden, wie sich der Bedarf an Kitas und Schulen verändert.
Fachkräftemangel ist Hauptursache
Finke spricht noch einen anderen Punkt an: "Die Erwerbsarbeit von Frauen soll gesteigert werden – als Königsweg, um Renten zu sichern. Aber wo sind dann die Kinder in der Zeit?", fragt Finke. Selbst wenn man Kindergärten baue, könnten die Stellen oft nicht belegt werden: Es mangelt an Fachkräften.
Zu diesem Schluss kommt auch die Bertelsmann-Studie ein weiteres Mal: Es fehlt sowohl an Geld als auch an Personal. Insgesamt müssten schätzungsweise 98.600 Fachkräfte zusätzlich zum vorhandenen Personal eingestellt werden, um den Bedarf zu decken. Das würde Personalkosten von rund 4,3 Milliarden Euro bedeuten. Dabei liegt in den meisten Fällen der Personalschlüssel aber deutlich unter wissenschaftlichen Empfehlungen. Um ihm gerecht zu werden, wären mehr als 300.000 Fachkräfte nötig.
Qualitätsmaßstäbe senken
Woher aber sollen diese kommen? Erzieherinnen und Erzieher fehlen auf dem Arbeitsmarkt. Finke meint: "Die Ausbildung dauert zu lange und müsste besser bezahlt sein. Aus meiner Sicht müsste sie niedrigschwelliger sein." Beispielsweise in Baden-Württemberg habe man die Qualitätsmaßstäbe bereits gesenkt, dort betreuen immer häufiger nicht mehr nur Fachkräfte die Kinder. "Das ist ein notgedrungener Schritt, das ist eigentlich furchtbar, aber vielleicht ist das der einzige Weg, um dem Problem aktuell zu begegnen", sagt Finke.
Ihr Urteil: "Kinder haben keine Lobby und die Entscheidungsträger sehen das Problem nicht." Ihr Vorschlag: 30 Wochenstunden Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich für Erzieher. "Man muss den Job attraktiver machen", erinnert Finke. Gleichzeitig bräuchten die Erzieher Rekreationszeit. Dass aus ihrem Vorschlag etwas wird, daran glaubt Finke kaum: "Aktuell stehen schließlich alle Zeichen auf Sparen."
Verwendete Quellen:
- Bertelsmann Stiftung: 2023 fehlen in Deutschland rund 384.000 Kita-Plätze
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