Die Überschwemmungen in der Emilia-Romagna haben für Milliardenschäden gesorgt. 15 Menschen verloren ihr Leben. Viele fragen sich einmal mehr, ob die schweren Folgen hätten verhindert werden können. Schließlich überfordern Unwetter und Überflutungen die Apenninhalbinsel seit Jahrzehnten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In der kleinen Stadt Conselice, Provinz Ravenna, steht das Wasser immer noch einen halben Meter hoch. Rund zwei Wochen nach den Fluten. Das Krankheitsrisiko ist groß, aber vor allem ältere Menschen wollen ihre Häuser nicht verlassen. Sie fürchten sich vor Plünderern, die von der Katastrophe profitieren wollen, die in Emilia-Romagna und den Marken 15 Menschen das Leben kostete. Also harren sie aus. Im Schlamm, ohne Trinkwasser und Strom.

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Währenddessen wird in Rom gestritten. Die rechte Regierung kann sich nicht einigen, wer der Sonderbeauftragte für den Wiederaufbau werden soll. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will diese Aufgabe nicht dem Präsidenten der Region Emilia-Romagna, Stefano Bonaccini, überlassen. "Meine Leute hier machen sich die Hände schmutzig und beschweren sich nicht", klagt der Sozialdemokrat im Gespräch mit "Repubblica". "Es kann nicht sein, dass sie mitbekommen müssen, dass jemand von Rom aus über sie bestimmen will, um sich an der schwierigen Situation politisch zu bereichern."

Mehr als 90 Prozent aller Kommunen von Fluten bedroht

Der Streit um Zuständigkeiten ist in Rom nichts Neues. Und neu ist auch nicht die Frage, die sich viele Menschen nun stellen: Hätte eine bessere Prävention die schweren Folgen verhindert? Immerhin erklärte das italienische Institut für Umweltschutz und -forschung (ISPRA) bereits 2018, dass mehr als 90 Prozent der italienischen Kommunen von Fluten bedroht waren. Insbesondere in der Emilia-Romagna, einer Region mit zahlreichen Flüssen, war die Flutgefahr hoch.

Luca Brocca, Leiter des Forschungsinstituts für hydrogeologischen Schutz, betont, wie extrem die Regenfälle waren, die die Region gleich zweimal, im Abstand von knapp zwei Wochen, trafen. "Keine technische Maßnahme, in welcher Form auch immer, wäre imstande gewesen, dieses Ausmaß zu halten", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Zuvor hatte es in der Region kaum geregnet, der trockene Boden konnte das Wasser nicht aufnehmen. Fast alle Flüsse quollen über, Deiche brachen, Auffangbecken versagten. Mehrere Hundert Erdrutsche verwüsteten das Gebiet.

Politikwissenschaftler: "Staat unternimmt zu wenig"

Tatsache aber ist: Starke Regenfälle und Überschwemmungen sind auf der Halbinsel im Mittelmeer seit Jahrzehnten ein Dauerproblem. Die Fluten auf der Insel Ischia und in den Marken liegen nur wenige Monate zurück. In den Jahren zuvor traf es unter anderem Sizilien sowie die Regionen Kalabrien, Umbrien oder Piemonte. "Wenn man sich anschaut, wie viele Klimaschäden Italien allein in den letzten Monaten erlitten hat, obwohl fast jedes dieser Ereignisse absehbar war, kann man kaum abstreiten, dass der Staat zu wenig unternimmt", sagt der Politikwissenschaftler Gianfranco Nucera im Gespräch mit unserer Redaktion.

Auch Nucera spricht das Problem mit den Zuständigkeiten an: Bis auf fünf Regionen mit autonomem Status können die italienischen Regionalregierungen in vielen Bereichen nicht allein entscheiden. Viele Maßnahmen zum Hochwasserschutz müssen, selbst wenn es einen Sonderbeauftragten gibt, erst das schwierige Prozedere durchlaufen: ausgehend von der Regierung in Rom über die Regionalregierungen bis hin zu den Kommunen.

"Es fehlt eine einheitliche Koordination, es fehlen Strukturen, die fähig sind, so ein komplexes Vorhaben zu steuern", so Nucera. "Wir erleben in Italien immer wieder die berühmte Katze, die sich in den Schwanz beißt: So sehr die Zeit in Sachen Klima auch drängt, eine schnelle Umsetzung kann es ohne einen Ansatz, der das System durchbricht, nicht geben." Viele Projekte würden über Jahre verzögert oder gar nicht erst realisiert. Und so versacken selbst milliardenschwere Investitionen.

Die Regierung Meloni hat den Klimaplan aktualisiert

Der postfaschistischen Regierung Meloni kann man – zumindest in dieser Hinsicht – noch gar nicht viel vorwerfen. Immerhin ist sie erst seit Oktober im Amt. Ende vergangenen Jahres hat sie den Plan zur "Anpassung an das Klima" (PNACC) von 2015 überarbeitet. Wie es das italienische Gesetz vorschreibt, stand der Entwurf bis Mitte April zur öffentlichen Diskussion online. Änderungsvorschläge werden nun ausgewertet. Wie lange das dauert, ist schwer zu sagen.

Aber bereits 2014 hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Matteo Renzi mit "Italia Sicura" ("Sicheres Italien") ein Projekt vorgestellt, das das komplexe System umgehen sollte. Das Projekt sollte eine einheitliche Strategie zur Sicherung Italiens vor Hochwasser, Erdrutschen und Fluten entwickeln und finanzielle Mittel freisetzen, die in der komplizierten Bürokratie feststeckten. Die Regierung des Linkspopulisten Giuseppe Conte gab das Instrument vier Jahre später auf, weil sich die Zuständigkeiten des Umweltministeriums geändert hatten. 8,4 Milliarden Euro gingen in andere Projekte über, unter anderem in den PNRR.

19 Milliarden Euro stehen auf dem Spiel

Der PNRR ist der Plan, mit dem sich Italien zu Reformen verpflichtet, um die milliardenschweren Corona-Hilfen aus dem europäischen Wiederaufbaufonds zu erhalten. Der Plan zeigt, dass man in Rom eigentlich weiß, was zu tun ist. Ein Absatz gibt vor, dass das Land "an den Problemen in der Steuerung des Hochwasserschutzes arbeitet". Probleme, die bereits der Rechnungshof festgestellt habe. Das unabhängige Verfassungsorgan überwacht Haushalt und Wirtschaft von Staat und Regionen. "Die Abläufe sollen einfacher und schneller werden, damit Projekte zur Prävention besser umgesetzt werden können", ist der Wortlaut. Weil Italien derzeit auch mit weiteren Reformen aus dem PNRR hinterherhinkt, muss Rom um die dritte Tranche der Corona-Hilfen bangen. 19 Milliarden Euro stehen auf dem Spiel.

Nucera fasst zusammen: "Wir haben uns, was den Schutz vor Klimaschäden angeht, zu sehr an Unterlassung gewöhnt." Das gelte nicht nur für Italien, aber eben auch. "Unterlassung ist ein schwerer Tatbestand", sagt der Politikwissenschaftler, der an der Sapienza-Universität internationales Recht unterrichtet. "Im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen immer nur Fehler, die jemand gemacht hat. Niemand beklagt sich darüber, was alles versäumt wurde."

Über die Experten:
Dr. Luca Brocca ist seit 2019 Leiter des italienischen Forschungsinstituts für hydrogeologischen Schutz. Der promovierte Tiefbau-Ingenieur erforscht derzeit, inwieweit Satellitensensoren die Erdfeuchtigkeit beobachten und dadurch hydrogeologische Maßnahmen, also auch Hochwasserschutz, verbessern könnten. Brocca hat mehr als 200 Publikationen veröffentlicht.
Dr. Gianfranco Nucera unterrichtet internationales Recht an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Sapienza-Universität in Rom und forscht als außerordentlicher Professor zu Klimagerechtigkeit und Kampf gegen den Klimawandel. Nucera hat zahlreiche Schriften zu internationalem Recht, Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung veröffentlicht.

Verwendete Quellen:

  • Repubblica.it: Emilia Romagna, i danni dell'alluvione e la ricostruzione: le news di oggi in diretta. Arrivano i contributi per gli sfollati
  • Isprambiente.gov.it: ISPRA (Seite 6)
  • gov.it: Piano Nazionale di Adattamento ai Cambiamenti Climatici
  • TG La7: C'era una volta Italia Sicura...perché è stata smantellata?
  • governo.it: (PNRR) Relazione al Parlamento sullo stato di attuazione del Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza
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