Zuletzt sorgten Gewaltvorfälle im Jugendfußball vermehrt für Schlagzeilen. Doch wie schlimm ist es auf den Plätzen wirklich? Was tun die Verbände? Und wie sehr sind die Trainer gefordert? Wir haben mit Carsten Byernetzki, dem stellvertretenden Geschäftsführer und Pressesprecher des Hamburger Fußball-Verbandes, gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Gewalt auf Fußballplätzen hat viele Gesichter. Sie äußert sich leider immer wieder körperlich, durch Schubsereien, aber auch durch gezielte Angriffe und Prügeleien. Meistens zeigt sie sich jedoch verbal, durch Drohungen oder Beleidigungen. Die Folgen sind Platzverweise, Spielabbrüche, Sperren. Bundesweit machen in erster Linie die ganz schlimmen Vorfälle Schlagzeilen, wie der 15-jährige Jugendfußballer aus Berlin, der an Pfingsten bei einem Turnier in Frankfurt nach einem Schlag an seinen schweren Hirnverletzungen starb. Oder der Vater eines C-Jugendspielers des FC Kalbach aus Frankfurt, der dem 15 Jahre jungen Schiedsrichter nach Spielschluss drohte, ihn zu köpfen.

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Es macht sich eine gefühlte Wahrnehmung breit, dass es im Jugendfußball inzwischen deutlich verrohter und gewalttätiger zugeht. Doch wie sieht die Situation auf den Plätzen tatsächlich aus? "Die überwiegende Anzahl von Spielen verläuft fair und reibungslos, aber in Einzelfällen ist die Situation besorgniserregend. Wir versuchen, mit allen möglichen Maßnahmen Abhilfe zu schaffen", sagt Carsten Byernetzki, stellvertretender Geschäftsführer des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV), im Gespräch mit unserer Redaktion.

Leichte Steigerung der Gewalt

In Hamburg war zuletzt eine leichte Steigerung der Gewalt zu verzeichnen, vor allem bei Feldverweisen wegen Beleidigung, insbesondere gegen Schiedsrichter. Die Zahlen aus 2021/22 zeigen 428 Platzverweise im Vergleich zu 331 vorher. Zudem gab es 14 Spielabbrüche, das sind fünf mehr als vorher. Bei rund 18.000 Spielen im Verband ist das auf den ersten Blick eine verschwindend geringe Zahl, "aber jeder Fall ist einer zu viel", betont Byernetzki. Klar ist auch: Das Gewaltproblem ist ein männliches – im Mädchenfußball gibt es quasi keine Vorfälle.

Auf der Suche nach den Gründen für die Steigerung vermutet die Psychologin Marion Sulprizio von der Sporthochschule Köln, dass mangelnde Affektkontrolle und verschiedene Einflüsse wie Videospiele und Virtual Reality zu solch gewalttätigen Handlungen führen könnten. Psychische Erkrankungen, einschließlich Aggressivität bei Jugendlichen, hätten zudem während der Corona-Pandemie zugenommen, sagte sie der Deutschen Welle. "Ich glaube, dass die Corona-Pause und dass die Kinder während der Zeit keinen Sport machen konnten, bei einigen dazu geführt hat, sich mal richtig auszutoben und dass in der Zeit einiges an Erziehung und gutem Benehmen verloren gegangen ist", sagt Byernetzki.

Auf die Frage, wie sicher Kinder beim Fußball noch seien, zögert Byernetzki dann aber keine Sekunde. "Sehr sicher", betont er. "Es ist immer noch eine Promillezahl an Spielen, wo etwas passiert. Es ist immer noch eine große Ausnahme, es sind Ausreißer, die erschütternd sind. Aber man muss davon ausgehen, dass es Gewalt im Fußball immer wieder geben wird", so Byernetzki.

Tatsächlich ist der Verband nicht untätig und ergreift entsprechende Maßnahmen, da es nicht damit getan ist, die Täter vor das Jugendsportgericht zu stellen und sie zu verurteilen. Also erst dann zu reagieren, wenn es bereits zu spät ist. Auch weil in dem Alter durch Maßnahmen noch etwas erreicht werden kann.

Zahlreiche Maßnahmen des Verbandes

Deshalb gibt es in Hamburg sogenannte "Coolness-Tage" und "Fit für Fairplay-Tage". Bei Letzterem können ganze Mannschaften präventiv einen Tag lang mit geschulten Personen den Umgang mit Provokationen und Gewalt theoretisch und praktisch üben. "Das ist sehr wirksam, weil sie merken, wie schnell sie reizbar sind", sagt Byernetzki.

"Letztendlich ist das Ganze auch ein Spiegelbild der Gesellschaft."


Carsten Byernetzki

Der Coolness-Tag ist als reaktive Maßnahme für verurteilte Spieler gedacht. Sie können an dem Tag Punkte sammeln und haben so die Chance, über einen Gnadenersuch die Sperre zu verringern. Auch das wirkt, die Rückfallquote liegt bei 0,02 Prozent. Außerdem geht das Gewalt-Präventionsteam nach Vorfällen auch in die Vereine, um das Geschehene mit den Beteiligten aufzuarbeiten. "Aber einige bekommst du nie, du rutschen immer durch", weiß Byernetzki. "Da stößt der Fußball auch an seine Grenzen, dafür haben wir zu viele Menschen, die den Sport betreiben. Letztendlich ist das Ganze auch ein Spiegelbild der Gesellschaft."

Laut einer aktuellen DFB-Statistik gibt es in Deutschland 24.154 Vereine, die 2022/23 insgesamt 87.790 männliche Jugendteams gemeldet haben, bei denen 1,074 Millionen Jugendliche bis 18 Jahren aktiv sind. 735.880 Spiele wurden im Jugendbereich in der Vorsaison durchgeführt. Deshalb ist klar, dass es natürlich auch in den bunt gemischten Mannschaften regelmäßig Problemkinder und -jugendliche und damit ein Potenzial für Gewalt gibt.

Genauso wie es übermotivierte und unverschämte Eltern oder überforderte Trainer gibt. "Erziehung fängt im Elternhaus an. Im Verein haben die Trainer eine riesige Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, die Trainer auszubilden. Unsere Lehrgänge sind in allen Bereichen gut gebucht. Man wird aber nie alle erreichen", sagt Byernetzki.

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Carsten Byernetzki ist Stellvertretender Geschäftsführer des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV). © Norbert Gettschat/Sportfoto Gettschat

Schulungen für trainierende Eltern

Auch die Eltern, die im unteren Jugendbereich oft als Trainer eine Mannschaft übernehmen, tun dies nicht aus der Not heraus, weil es nicht genügend ausgebildete oder ehrenamtliche Trainer gibt. "Das ist heutzutage die Regel. Denn so haben die Kinder oft erst die Chance, überhaupt im Verein zu spielen. Anders ist das gar nicht zu schaffen", sagt Byernetzki. Begleitend dazu werden Kurz-Schulungen bei den Vereinen durchgeführt, oder der "Tag der Qualifizierung", um ein paar grundlegende Dinge für das Training zu erlernen.

Wodurch sich die Frage stellt: Wie viel Erziehungsarbeit kann und muss ein Jugendtrainer leisten? "Die haben eine riesige Verantwortung, es ist eine schwere Aufgabe, das alles zusammenzuhalten. Was alles mit reinspielt und worauf man als Trainer in dem Zusammenhang alles achten muss, ist nicht wenig", betont Byernetzki. Man merke, dass dort, wo wenig bis gar nichts passiere, ein gutes Trainerteam dahinterstecke, so Byernetzki.

Deshalb ist der Bereich der Erziehung ein festes Ausbildungsthema und immer mehr in den Vordergrund gerückt. "Das kann man nicht mehr weglassen, es geht bei der Ausbildung schon lange nicht mehr nur um Torschusstraining", sagt Byernetzki. Auch tauschen sich die Verbände untereinander aus. Es gibt regelmäßige Treffen mit allen Fachbereichen, oder aber auch in den Nachbarverbänden im Norden.

Wird genug in der Prävention getan?

Wird also genug getan? Die Kriminologin Thaya Vester berät den Deutschen Fußball-Bund (DFB) und fordert, dass Trainer und Vereine viel früher einschreiten und deutliche Grenzen setzen müssten. "Sie hat völlig recht", sagt Byernetzki. Das Problem ist die Umsetzung, denn "auch ein Vereinstrainer stößt irgendwann an seine Grenzen, weil er das, was Elternhaus und Schule versäumt haben, bei drei Trainingseinheiten in der Woche kaum aufholen kann".

Er könne versuchen, gewisse Maßstäbe und Richtlinien zu setzen, so Byernetzki, "am Ende liegt es dann aber auch an der Persönlichkeit und der Stärke des Trainers". Und ein guter Trainer hat auch die Eltern im Griff.

Grundsätzlich seien aber die Eltern die ersten Verantwortlichen, dann komme die Schule und dann der Verein. "Aber irgendwo stößt möglicherweise jeder an seine Grenzen. Und dann muss man auch mal Konsequenzen zeigen, die Kinder sperren oder nach Hause schicken", stellt Byernetzki klar. Denn das Problem der Gewalt im Jugendfußball wird bleiben, auch weil immer neue Kinder und neue Anfängertrainer nachkommen.

Der HFV-Sprecher weiß: "Deshalb wird es immer wieder Einzelfälle geben, bei denen die Dinge aus dem Ruder laufen. Man muss versuchen, so gut wie möglich dagegen anzugehen." Parallel dazu sind Vorbildfunktionen von Trainern und Eltern "das alles Entscheidende. Und ein guter Trainer hat auch die Eltern im Griff. Deswegen ist für uns die Ausbildung das Wichtigste, um ihnen das Rüstzeug mit auf den Weg zu geben". Damit es auch in Zukunft bei Einzelfällen bleibt.

Zur Person: Carsten Byernetzki ist der Stellvertretende Geschäftsführer des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV). Außerdem ist der 62-Jährige Teamleiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Marketing, Ehrenamt.

Verwendete Quellen:

  • hfv.de: Coolness-Tage
  • dw.com: Deutschland: Gewalt im Jugendfußball steigt an
  • dfb.de: DFB- Mitgliedstatistik 2022/2023
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