Sie sind jung, deutsch - und fanatisch. Immer mehr Jugendliche geben ihr altes Leben in der Bundesrepublik auf, um sich in Syrien oder Afghanistan dem bewaffneten Kampf der Islamisten anzuschließen. Aber auch in anderen westlichen Ländern steigt die Zahl derer, die in den "Heiligen Krieg" ziehen. Im Interview erklärt Dr. Jochen Müller, was Jugendliche dazu bewegt, alles aufzugeben und sich gewaltbereiten Islamisten anzuschließen.

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Herr Müller, gibt es ein Muster, wie und warum junge Deutsche zu Dschihadisten werden?

Dr. Jochen Müller: Da müssen eine ganze Menge Faktoren zusammenkommen. Eines der Hauptmotive sind schwierige Familiengeschichten – wie z.B. Trennungen von Eltern oder fehlende Väter. Daneben sind es Diskriminierungserfahrungen, und zwar nicht nur als Muslime mit Migrationshintergrund, sondern Diskriminierungen und Frustrationserfahrungen im weitesten Sinne – sei es in der Schule, in der Familie, im sozialen Umfeld.

Wer ist denn besonders anfällig, sich von Islamisten radikalisieren zu lassen?

Zum großen Teil haben wir es mit Leuten mit niedrigen oder keinen Bildungsabschlüssen zu tun. Denen fehlt es oft an Perspektiven, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Aber natürlich führt keiner dieser Faktoren für sich allein dazu, dass man sich irgendwelchen gewalttätigen Kämpfern anschließt. Es gibt, glaube ich, bei einigen so einen Moment, der sich vielleicht auch bei Amokläufern wiederfindet: Der Wunsch, einmal im Leben "groß" und mächtig zu sein, andere klein zu machen – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen, die von den jungen Leuten als traumatisch erfahren werden. Religion ist dabei quasi nur der Rahmen, eine Rechtfertigung dafür, der Wut und Aggressivität, die sich aufgestaut haben, ein Ventil zu geben. Das sieht man auch daran, dass sehr viele, die sich dem Dschihad anschließen, Konvertiten deutscher Herkunft sind und gar keinen Migrationshintergrund haben. Wenn man aber speziell über Demütigungs- und Ohnmachtserfahrungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund spricht, spielen nicht unbedingt immer eigene Erfahrungen die Hauptrolle, sondern auch solche, die Eltern und Großeltern gemacht haben – sei es in ihren Herkunftsländern oder hier in Deutschland – auf die ihre Kinder bewusst oder unbewusst reagieren.

Welche Rolle spielt der religiöse Nährboden für die eigene Radikalisierung?

Ich glaube, Religiosität oder Spiritualität ist hier eher unwichtig. Stattdessen geht es darum, eine Gemeinschaft zu haben, eine Gruppe, die einem sagt, was richtig ist und was falsch. Wenn ich diese Jugendlichen sehe, sehe ich da keine Religiosität im Sinne einer Spiritualität. Bei vielen spielt aber der Wunsch nach Gerechtigkeit oder der Protest gegen Ungerechtigkeiten eine wesentliche Rolle. Die schließen sich dem Dschihad an, weil sie sich davon eine gerechtere Welt versprechen, an deren Aufbau sie mitwirken wollen. Darauf setzen die radikalen Propagandisten. Sie sagen: "Warum wehrt ihr euch nicht, warum sitzt ihr noch zu Hause, während überall die Muslime unterdrückt werden? Kommt zu uns und kämpft mit." Hier wird an realen Erfahrungen angesetzt und eine Feindbild-Ideologie daraus konstruiert. Für einige Jugendliche und junge Erwachsene mit ihrem Wunsch nach Anerkennung und Aufmerksamkeit erscheint das attraktiv. Viele wollen ein Zeichen setzen – und sich den Dschihadisten anzuschließen ist derzeit wohl eine der provokativsten, krassesten Sachen, die man als junger Mensch machen kann.

Aber wie kommt es, dass der Wunsch nach Aufmerksamkeit im Dschihad mündet?

Jugendliche wollen alle Aufmerksamkeit. Manche geraten im Rahmen dieser Suchprozesse auf Abwege. So wollen auch die vermeintlich harten Jungs herausfinden: Wo gehöre ich dazu, wo will ich hin im Leben und so weiter. Das sind zunächst normale Prozesse, in denen sie dann auf die falschen Leute und ihre Antworten treffen. Dann mag bei einigen auch eine Form der Abenteuerlust hinzukommen. Und: Viele von den jungen Männern, die nach Syrien in den Krieg ziehen, kommen bereits aus kriminellen Milieus, in denen auch Gewalt und Gewaltbereitschaft eine große Rolle spielen. Sie sind also dort bereits auffällig geworden.

Hält denn die Angst vor dem eigenen Tod einige nicht auch davon ab, sich den Islamisten anzuschließen?

Ich glaube, zu beweisen, schau her, ich bin mutig, ein Löwe, wirkt sich stärker aus als etwa eine realistische Vorstellung darüber, was es heißt, in den Krieg zu ziehen. Das wird wohl ausgeklammert oder romantisiert. Ich bezweifle auch, dass sich viele von den Dschihadisten anziehen lassen, weil sie es toll finden, jemandem den Kopf abzuschneiden. Das ist ja auch nur ein Teil der radikalen Propaganda, der mit dieser Brutalität operiert. Der andere Teil vermittelt die Botschaft: Wir packen hier was zusammen an, wir gründen eine neue Gesellschaft, einen neuen Staat.

Wie kann man Leute denn davon abhalten, sich dem Dschihad anzuschließen?

Ich würde grundsätzlich davon sprechen, dass es sich bei vielen jungen Erwachsenen, die nach Syrien gehen, um Formen von Verwahrlosung handelt: psychisch, emotional, sozial. Das heißt auch, dass es eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung dafür gibt. Sie sind und bleiben, wenn man so will, "unsere Kinder". Intervenieren kann man da in einem Feld zwischen Prävention und De-Radikalisierung. Das kennen wir auch aus dem Rechtsextremismus: Leute, die schon stark ideologisiert und radikalisiert sind, holt man nicht im Gespräch oder mit einem Argument zurück. Solche Ausstiegsprozesse – aus einer Ideologie, die einem eine Welterklärung, Orientierung und Sicherheit bietet, oder aus einer Szene aus Gleichgesinnten, die mir sozialen Rückhalt geben – dauern manchmal Jahre. Prävention funktioniert ganz anders. Da können wir in einem weiteren Sinne von Demokratieerziehung sprechen, die überall da stattfindet, wo Jugendliche unterwegs sind und wo sie sensibilisiert werden können für einfache, schwarz-weiße Welt- und Feindbilder – also in der Schule, in Jugendeinrichtungen, in den Medien und natürlich auch in den Moscheen und muslimischen Organisationen. Dazu zählt auch die Begegnung von Islamfeindlichkeit, etwa indem noch viel deutlicher gesagt wird, natürlich gehören Islam und Muslime, egal ob sie religiös sind oder nicht, hier dazu. Es sind ja die Salafisten, die junge Muslime ansprechen indem sie sagen: Die werden euch nie anerkennen und euch immer diskriminieren. Die Gesellschaft muss Jugendlichen – insbesondere solchen mit Migrationshintergrund – bei ihren Suchprozessen mehr Raum und Gelegenheiten geben für ihre Fragen zu Identität, Zugehörigkeiten und zur Religion. Das geschieht meines Erachtens noch viel zu wenig. Wenn wir nämlich die Räume zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht zur Verfügung stellen, dann kommen andere und geben ihre Antworten.

Dr. Jochen Müller studierte Islamwissenschaft und ist Mitbegründer des Vereins ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft (www.ufuq.de). Im Mittelpunkt stehen hier die Beschäftigung mit dem Islam in Deutschland, muslimischer Jugendkultur, Fragen der politischen Bildung und der Islamismusprävention.
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