Überbelegung, Gewalt, hohe Rückfallquoten: Im deutschen Strafvollzug gibt es zahlreiche Missstände. Experten plädieren dafür, weniger Menschen wegzusperren.

Mehr Panorama-Themen finden Sie hier

In Baden-Württemberg ist die Zahl der Angriffe auf Gefängnismitarbeiter 2018 auf einen Höchststand gestiegen. In Berlins Haftanstalten arbeiten die Bediensteten nach Angaben ihrer Gewerkschaft "am Anschlag".

Das sind nur zwei Meldungen aus den vergangenen Wochen, die zeigen: Im deutschen Strafvollzug liegt offenbar einiges im Argen. Warum? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:

Was kennzeichnet den deutschen Strafvollzug im Vergleich zu anderen Ländern Europas?

Bei wichtigen Kennzahlen liegt Deutschland im Mittelfeld. Laut eines Reports der Universität Lausanne im Auftrag des Europarats kommen hierzulande zum Beispiel 87,4 Gefangene auf 100 Plätze – der europäische Durchschnitt liegt bei 87,6.

Besorgniserregend sind Zahlen zur Selbstmordrate: Mit 11,8 Suiziden pro 10.000 Insassen lag Deutschland 2017 auf einem der Spitzenplätze – übertroffen nur von Andorra, Frankreich und Österreich.

Als vorbildhaft gilt wiederum die Vielzahl an Programmen für Inhaftierte: Sie können Schulabschlüsse machen, Sport treiben, erhalten Therapien. Allerdings verhindern all diese Angebote nicht, dass viele Häftlinge nach ihrer Entlassung erneut kriminell werden.

Wie hoch ist die Rückfallquote?

2016 veröffentlichte das Bundesjustizministerium eine Studie zum Thema. Nach neun Jahren werden demnach 48 Prozent der verurteilten Straftäter rückfällig.

Diese Quote schwankt je nach Form des Vollzugs. Unter Jugendlichen ohne Bewährung liegt sie zum Beispiel noch höher.

Dabei ist die Resozialisierung – also die Wiedereingliederung in die Gesellschaft – ein zentrales Ziel des Strafvollzugs. "Man möchte, dass Menschen, die entlassen werden, keine Straftaten mehr begehen. Die Ausgangsbedingungen im Strafvollzug sind aber denkbar schlecht, um dieses Ziel zu erreichen", sagt Jens Puschke, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Marburg, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Wie ist das zu erklären?

"Der größte Teil der Gefangenen hat eine lange strafrechtliche Karriere hinter sich und kommt zudem aus schwierigen sozialen Verhältnissen", sagt Bernd Maelicke im Gespräch mit unserer Redaktion.

Er ist Direktor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft und Autor des Buchs "Das Knast-Dilemma". "In Haftanstalten treffen viele Menschen mit diesen Voraussetzungen aufeinander", erklärt Maelicke.

Das berge die Gefahr, dass sich Subkulturen bilden. "90 Prozent ihrer zwischenmenschlichen Kontakte haben Inhaftierte zu Mitgefangenen."

Die möglichen Folgen sind zahlreich: Es entstehe ein Klima, das Gewalt und letztlich auch Selbstmorde begünstigen kann, sagt Jens Puschke.

Auch die Gefahr, dass Gefangene mit terroristischem Gedankengut in Berührung kommen, ist groß.

Welchen Einfluss hat die Belegung von Gefängnissen?

"Je enger die Belegung ist, desto größer ist die kriminelle Ansteckungsgefahr", sagt Bernd Maelicke. In einer Haftanstalt sollten zehn Prozent der Plätze frei sein, um die Belegung steuern zu können.

Deutsche Gefängnisse erreichen da sehr unterschiedliche Zahlen. Laut Statistischem Bundesamt waren zum Beispiel in Baden-Württembergs Anstalten im März vergangenen Jahres 98 Prozent der Plätze besetzt.

Im geschlossenen Männervollzug gibt es dort derzeit eigentlich sogar mehr Insassen als Plätze. In Mecklenburg-Vorpommern dagegen lag die Quote 2018 bei 74 Prozent.

Welche Rolle spielen sprachliche Barrieren?

Der Anteil ausländischer Gefangener ist in Deutschland relativ hoch. Er liegt nach Zahlen des Europarat-Reports mit 38,1 Prozent deutlich über dem europäischen Durchschnitt (24,9 Prozent).

Die Haftanstalten stellt das vor zusätzliche Herausforderungen: "Sprachliche Grenzen führen zu einem höheren Risiko, dass sich Subkulturen bilden", sagt Jens Puschke.

Wie könnte das Problem angegangen werden?

"Je weniger Menschen weggesperrt werden, je mehr über ambulante Programme gemacht wird, desto besser sind die Ergebnisse", ist Bernd Maelicke überzeugt.

Unter ambulanten Modellen sind etwa Wohngruppen zu verstehen, in denen Verurteile untergebracht werden, statt ins Gefängnis zu gehen. Oder sie bleiben in Freiheit in ihrem sozialen Umfeld, werden aber von einem Bewährungshelfer betreut.

Dieser hilft bei der Arbeitsplatzsuche, betreut seine Klienten in Krisensituationen und versucht zu verhindern, dass sie erneut mit dem Verbrechen in Kontakt kommen. "Es wäre sinnvoll, so viele Gefangene wie möglich in ambulante Programme zu bringen", sagt Maelicke.

Für wen kommen diese Programme in Betracht?

20 bis 25 Prozent der Inhaftierten gehören laut Maelicke zu den gefährlichen Gefangenen, die zum Beispiel wegen Mord, Totschlag oder gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurden.

"Die gehören in den geschlossenen Strafvollzug", sagt der Experte. "Das bedeutet aber auch, dass 80 Prozent der Insassen für ein Öffnungsmodell in Frage kommen."

Bleiben Straftäter in Freiheit und werden von einem Bewährungshelfer betreut, bleiben sie zwar in dem Umfeld, in dem sie kriminell geworden sind.

"Wie gut die Resozialisierung gelingt, hängt aber maßgeblich von der Qualität der sozialen Beziehungen ab. Diese Beziehungen aufzubauen, fällt im offenen Vollzug leichter als im geschlossenen", erklärt Bernd Maelicke.

Warum werden nicht mehr ambulante Programme umgesetzt?

Mit der Idee, weniger Straftäter einzusperren, können Politiker schwerlich Wahlen gewinnen. Generell bestehen in Deutschland Unterschiede, denn für den Strafvollzug sind die Bundesländer zuständig.

Schleswig-Holstein hat zum Beispiel eine vergleichsweise niedrige Gefangenenquote. Der Ansatz, mehr ambulante Programme einzusetzen, sei dort parteiübergreifend akzeptiert, sagt Bernd Maelicke. "Diese niedrigere Quote spart Kosten, auch die Rückfallquote ist in den ambulanten Programmen niedriger."

Bayern dagegen verfolge weiterhin eine sehr konservative Strafrechtspolitik, setzt zum Beispiel auf lange Freiheitsstrafen und Therapien im Gefängnis.

"In Deutschland wird häufig immer noch ein Gegensatz gebildet zwischen Resozialisierung und Sicherheit", sagt Jens Puschke. "Dahinter steckt die Idee, dass notwendige Maßnahmen zur Resozialisierung wie Hafturlaub oder Freigang sicherheitsgefährdend seien." Das sei aber falsch: "Resozialisierung ist die nachhaltigste Form Sicherheit zu schaffen."


Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Maelicke, Deutsches Institut für Sozialwirtschaft
  • Gespräch mit Prof. Dr. Jens Puschke, Philipps-Universität Marburg
  • Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz: Neue bundesweite Rückfalluntersuchung
  • Report des Europarats: Prison Populations
  • Statistisches Bundesamt: Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen am 31.03. (
  • Statistisches Bundesamt: Strafvollzug – Zahl der Haftanstalten, Belegungsfähigkeit und Belegung am 31. März 2018
  • dpa: Gewalt hinter Gittern: Angriffe auf Bedienstete nehmen zu
  • dpa: Gewerkschaft: Mehr Personal und Wertschätzung gebraucht

Warum wir bei Chips die Kontrolle verlieren

Warum können wir Chips nicht weglegen, bis die Tüte leer ist? Wissenschaftler haben eine Antwort: Das Geheimnis steckt im Mischungsverhältnis der Inhaltsstoffe. © BR
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.