Es ist ein Medizin-Skandal von ungeheuerlichem Ausmaß, den NDR, WDR, "Süddeutsche Zeitung" sowie das internationale Konsortium für Investigative Journalisten (ICIJ) aufgedeckt haben. Es geht um mangelhafte medizinische Produkte, vor allem Implantate und Prothesen, Tausende Opfer und fehlende staatliche Kontrolle. Die ausgewerteten Daten tragen den Namen "Implant Files" und sorgen weltweit für Aufsehen.

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Fehlerhafte Medizinprodukte wie Implantate verursachen nach Medienrecherchen immer häufiger Verletzungen und auch Todesfälle.

In Deutschland seien im vergangenen Jahr 14.034 Fälle gemeldet worden, bei denen es zu Verletzungen, Todesfällen oder anderen Problemen gekommen sei, die im Zusammenhang mit Medizinprodukten stehen könnten.

"Implant Files" enthüllen verstörende Zustände

Diese Verdachtsfälle nähmen stark zu, berichteten die Sender NDR und WDR sowie die "Süddeutsche Zeitung" am Sonntagabend.

Die drei Medien hätten in Zusammenarbeit mit dem internationalen Konsortium für Investigative Journalisten (ICIJ) sowie etwa 60 Medienpartnern dazu recherchiert.

Die Recherchen würden unter dem Titel "Implant Files" weltweit veröffentlicht. Die Zunahme der Meldezahlen wird seit Jahren von der zuständigen Behörde - dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) - registriert und auch veröffentlicht.

Die aktuellste Zahl auf der Webseite ist von 2016, als 12.000 Fälle gemeldet wurden.

Allerdings hat das Institut nach eigener Darstellung bei seinen Überprüfungen in der Vergangenheit festgestellt, dass bei rund 40 Prozent der Fälle das gemeldete Problem nicht von dem Medizinprodukt ausgegangen sei. Es sei also im rechtlichen Sinne kein meldepflichtiges "Vorkommnis" gewesen.

So bezeichnet das Institut beispielsweise eine Funktionsstörung oder unsachgemäße Bezeichnung eines Medizinproduktes, die zum Tod oder zur Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten geführt haben könnte.

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Keine staatliche Kontrolle, hohe Dunkelziffer

Für die Zunahme der Meldungen gibt es laut BfArM mehrere Gründe: Einerseits steige die Zahl der Medizinprodukte. Andererseits steige aber auch die Zahl der Meldungen bei Problemen. Es gebe ein deutlich verbessertes Meldeverhalten von Ärzten und Kliniken, sagte BfArM-Sprecher Maik Pommer der dpa.

Das BfArM weise Mediziner und Krankenhäuser regelmäßig auf die Meldeverpflichtung hin. An der Erfüllung dieser Meldepflicht mangelt es jedoch nach Angaben von NDR, WDR und "SZ".

Die Dunkelziffer dürfte laut den Recherchen von NDR, WDR und "SZ" deshalb noch "erheblich höher" sein, da Hersteller, Ärzte und Krankenhäuser den Behörden nur wenige Fälle meldeten, obwohl sie dazu verpflichtet seien.

Am Beispiel Brustimplantate werde dies deutlich: Im vergangenen Jahr wurden dem Rechercheverbund zufolge in deutschen Krankenhäusern 3.170 Implantate herausoperiert, weil das Gewebe rund um die Silikonkissen schmerzhaft vernarbt gewesen sei; allerdings seien nur 141 dieser Fälle gemeldet worden.

Weiter hieß es in dem Bericht, die Behörden überließen es den Herstellern in der Regel selbst, fehlerhafte Produkte zurückzurufen oder Sicherheitswarnungen auszusprechen.

Seit 2010 hätten die Hersteller dies pro Jahr rund tausendmal getan, die Behörden hätten im gleichen Zeitraum offenbar nur sechs Mal einen Rückruf angeordnet.

Als weiteres Problem sieht der Rechercheverbund, dass solche Medizinprodukte in Europa nicht von staatlichen Stellen kontrolliert und zertifiziert werden müssten.

Entschädigungszahlungen mit Schweige-Klausel

Unter Berufung auf interne Unterlagen des Gesundheitsministeriums berichteten NDR, WDR und "SZ", dass in Deutschland regelmäßig Produkte implantiert würden, die kaum getestet worden seien.

Schäden durch Medizinprodukte würden allerdings selten publik, da die Hersteller Entschädigungszahlungen an Verschwiegenheitsverpflichtungen der Betroffenen knüpften, heißt es in dem Bericht.

In den vergangenen zehn Jahren mussten Medizinprodukthersteller demnach außerdem mehr als 1,6 Milliarden Dollar (1,4 Milliarden Euro) zahlen, um Korruptions- und Betrugsvorwürfe beizulegen, wie aus Daten der US-Börsenaufsicht SEC und des US-Justizministeriums hervorgehe.

Das Geschäft mit künstlichen Gelenken, Schrittmachern, Hörgeräten oder anderen Medizinprodukten sei laut Gesundheitsministerium mittlerweile auf einen Umfang von 282 Milliarden Euro weltweit gewachsen, heißt in dem Bericht. Allein deutsche Unternehmen setzten etwa 30 Milliarden Euro mit diesen Produkten um.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wisse zwar, welche Produkte in den vergangenen Jahren zu den meisten Todesfällen und Verletzungen geführt hätten.

Sowohl die Aufsichtsbehörde als auch das Bundesgesundheitsministerium verweigerten aber Auskunft darüber, weil es sich um vertraulich Informationen handele. (dpa/afp/mwo)

Verwendete Quellen:

  • dpa
  • "Süddeutsche Zeitung": Was Sie über die Implant Files wissen müssen
  • ICIJ: Medical Devices Harm Patients Worldwide As Governments Fail On Safety
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